Dank Illner auf die Straße gehen

Dank Illner auf die Straße gehen

Der „Verfassungsbruchminister“ und die RTL-Chefin gehen in die Offensive. Außerdem: Der MDR übertrifft die Erwartungen, und beim ZDF kann man sich ab heute schön gruseln.

„Nachladefunktion nötig“ lautete am Wochenende auf der FAS-Titelseite eine Formulierung in der Unterzeile des Aufmachers. Es ging, wie schon in eine Woche zuvor, um den Staatstrojaner (siehe Altpapier), aber zuerst denkt man bei dem Begriff ja an Schießereien, an Filmszenen, die deshalb spannend werden, weil einer der Protagonisten nachladen muss. Der Mann, der sich im Interview mit der FAS zur „Nachladefunktion" äußert, ist Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich. Ob es ihm „keine Bauchschmerzen“ bereite, dass ein Trojaner unerlaubte Funktionen „nachladen könnte“?

„Nein. Wir brauchen diese Nachladefunktionen, um uns den normalen Updates auf dem Zielcomputer anpassen zu können.“

„Nachladefunktion“ ist angesichts der von den Trojanern ausgehenden Bedrohung allemal ein angemessen martialischer Begriff, und er passt auch zu der aggressiven Tonart, die Friedrich in dem Gespräch anschlägt - etwa gegenüber dem Chaos Computer Club, der den Staatstrojaner-Skandal aufgedeckt hat:

„Der CCC hat nichts aufgeklärt, sondern dem Chaos in seinem Namen alle Ehre gemacht.“

Die Überwachung laufe im übrigen weiter, nicht mit dem vom CCC entdeckten Trojaner, sondern mit „anderer Software“, denn:

„Sollen wir die organisierte Kriminalität laufen lassen? Den Drogenhandel? Den Menschenhandel? Den Waffenschmuggel? Und was ist mit dem Terrorismus? Denn nur gegen solche schweren Verbrechen gehen wir auch mit Hilfe von Überwachungssoftware vor.“

Der Terrorismus ist in dieser Argumentation erstaunlicherweise nur das fünfte Rad am Wagen. Der vielleicht erstaunlichste Wortwechsel ist folgender:

„Fühlen Sie sich manchmal gefesselt durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das für Telekommunikationsüberwachung und Online-Durchsuchungen enge Grenzen zieht?“

Friedrich: „Nein, Karlsruhe verfolgt das Ziel, den Schutz der Grundrechte in spezifischen Situationen handhabbar zu machen. Jemanden, der für die Sicherheit zuständig ist, macht das nicht immer glücklich.“

Mit anderen Worten: Nein heißt eigentlich Ja. In der Blogosphäre fanden Friedrichs Worte erwartungsgemäß einigen Nachhall, F!xmbr etwa nennt ihn einen „Verfassungsbruchminister“, an dessen Rücktritt kein Weg vorbei führe:

„Friedrich bagatellisiert das Anfertigen von Tausenden Screenshots mit der Auffassung, dies seien unterschiedliche rechtliche Standpunkte. Das ist schlichtweg ein Skandal. Der Rechner ist nicht nur unser verlängerter Arm. Er ist unser ausgelagertes Gehirn. Wir vertrauen unserem Rechner private Gedanken an. Wir schreiben Texte, die niemals verschickt und veröffentlicht werden, schreiben Tagebuch, hinterlassen intimste Details. Der Computer ist unser Beichtvater. Unterschiedliche Rechtsauffassungen gibt es in diesem Punkt nicht. Dies wurde vom Bundesverfassungsgericht bereits eindeutig bestätigt, das Landgericht Landshut hat sich auf diese Entscheidung bezogen. Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wohl noch keinen Fall gegeben, in dem ein Bundesinnenminister sich öffentlich in einem Interview mit einer der angesehensten Zeitungen des Landes gegen die Verfassung gestellt hat.“

Netzpolitik (eher kurz) und Netborn (ausführlich) greifen ebenfalls Friedrichs Äußerungen auf. Einen Überblick zur Debatte findet man hier.

Die Berichterstattung über das andere politische Hauptthema des Wochenendes, die bundesweiten Proteste der Occupy-Bewegung gegen die Bankster bzw. Bangster, findet sich - Aufhänger ist naheliegenderweise die Frankfurter Demo - im FAS-Wirtschaftsteil:

„Es sind keine Spinner, die in Deutschlands Innenstädten Transparente schwenken. Es sind Bürger.“

Zumindest bei Occupy Berlin waren einige „Spinner“ unterwegs, wie diese natürlich nicht repräsentative Bildergalerie von preflexion bei Flickr zeigt. Speziell dieses, dieses und dieses Foto beweisen, dass sich auch einige weniger höfliche Formulierungen als „Spinner“ finden ließen.

Unter medienjournalistischen Aspekten bemerkenswert ist diese Textpassage des Demonstrationsberichts:

„Petra Özkan, 59, zieht an der Seite ihres Ehemanns Kamil durchs Bankenviertel, 60 Jahre alt. Sie ist Lehrerin, er Übersetzer. Das Ehepaar hat die Talkshow ‚Maybrit Illner‘ gesehen, als Gast war der Organisator des Frankfurter Demonstrationszugs geladen. Nach der Sendung setzte sich Kamil Özkan an den Esstisch und malte ein Schild: ‚Empört Euch!‘“

Hätte man Illner (im Screenshot mit besagtem Organisator zu sehen) ja gar nicht zugetraut, dass sie 60-Jährige dazu verleitet, sich wie Teenager zu verhalten. Die Özkans widerlegen jedenfalls die These von der Talkshow als „Modell der sedativen Suada“, das Lutz Hachmeister neulich in der Zeit sehr stimmig beschrieben hat. Illner steht in ja auch insofern gut da, als ihre Konkurrenten Günther Jauch, bei dem es gestern um die „Volksdroge Alkohol“ ging (siehe Mischung aus Live-Ticker und Blitzkritik bei Focus Online) und Frank Plasberg (heutiges Thema: Organspenden) die komplexe Tagesaktualität (Staatstrojaner, Occupy-Bewegung) derzeit meiden.

Beim samstäglichen SZ-Themenschwerpunkt „Warum ist öffentlich-rechtliches TV nicht besser?“ fehlte das Thema Talkshow natürlich nicht. Bei Roger Willemsen zum Beispiel:

„Während man zusehen kann, wie sich ehemals renommierte Interviewerinnen quotenhörig in die Würdelosigkeit moderieren, opfert man ein erwachsenes Fernsehen flächendeckend der Unterhaltung und scheitert eben da.“

Dass mit „ehemals renommierten Interviewerinnen“ eine frühere Lebensgefährtin Willemsens gemeint ist, darf man wohl nicht ausschließen. Weitere Kernsätze des fünfteiligen Schwerpunkts:

„Der Fehler von ARD und ZDF ist es gewesen, sich dem Kommerz-TV in beinahe jedem Genre angenähert zu haben, statt die Unterschiede zu betonen oder sie zu schärfen, etwa beim Fernsehfilm - auch bei dem, der gezielt und aus dem Selbstverständnis eines Unterhaltungsmediums auf Zerstreuung und Ablenkung zielt.“

Letzteres schreibt Christopher Keil, der sich auf das Thema Fernsehfilm fokussiert. Und noche einmal Willemsen:

„Gewiss, das Fernsehen macht dumm, aber zuerst seine Produzenten.“

Unmittelbar davor kommt die „RTL-Chefin" vor, die aber nicht namentlich erwähnt ist. Zum Trost für diese Einschätzung Willemsens darf eben jene Anke Schäferkordt in der SZ heute den öffentlich-rechtlich-kritischen Faden vom Samstag unter anderen Vorzeichen aufnehmen:

„Muss denn jeder regionale Sender der ARD überall empfangen werden? Muss der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit allen Inhalten und Plattformen, auch den regionalen, überall hin?“,

fragt sie in einem ausführlichen Interwiew. Außerdem erzählt die RTL-Geschäftsführerin, ihr Sender habe kürzlich eine Forsa-Studie „bestellt“ zu der Frage, inwieweit die Bevölkerung Verständnis für Gebührenerhöhungen habe. Sagt man das heute so? Dass man eine Umfrage „bestellt“ hat? Das Ergebnis fiel jedenfalls wie „bestellt“ aus:

„Drei Viertel der Befragten einer entsprechenden Umfrage gaben an, dass sie für eine Gebührenerhöhung kein Verständnis hätten. Wenn ARD und ZDF weiter auf Gebührenerhöhungen setzen und die Politik das zulässt, käme man in die Nähe einer vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk entsolidarisierten Gesellschaft.“

Das letzte Bashing der Öffentlich-Rechtlichen in Sachen Gebühren löste bekanntlich die Zeit aus (siehe Altpapier). Was Willi Steul, dem Intendanten des Deutschlandradios, dabei durch den Kopf ging, hat er in der vergangenen Woche dem Publikum der Tagung „Initiative Qualität im Journalismus“ erzählt. Die Funkkorrespondenz hat es dokumentiert:

„Sollte ich nun erneut darauf hinweisen, dass wir mit DRadio Wissen ein neues Programm aufgelegt haben, nicht aus Chuzpe, sondern als gesetzlichen Auftrag der zuständigen Rundfunkkommission der Länder? Dass wir diesen Auftrag erfüllt haben, vier Jahre lang, ohne dass dies in der Gebührenfinanzierung bisher berücksichtigt war? (...) Würde mir überhaupt einer zuhören, wenn ich öffentlich erklärte, dass wir in unserer Gebührenanmeldung an die KEF die Personalkostensteigerung mit 0,8 Prozent rechnen, dabei aber genau wissen, dass rund 2 Prozent notwendig sind – dass wir also pro Jahr eigentlich mehr als doppelt so hoch steigende Kosten für Personal und Honorare haben? Dass wir dies also durch Kostensenkungen, sprich: Rationalisierung im gesamten Spektrum von Deutschlandradio auffangen werden, auffangen müssen? (...) Würde mir einer zuhören, wenn ich erklärte, dass der Anteil von Deutschlandradio an den 17,98 Euro rund 39 Cent beträgt? – der Preis eines Roggenbrötchens bei meinem Bäcker!“

[listbox:title=Artikel des Tages[Die FAS interviewt den größten Staatstrojaner-Fan##Der Tagesspiegel interviewt Andrea Sawatzki##Der New Yorker porträtiert die New-York-Times-Chefin]]

Die zumindest bei investigativen Journalisten derzeit beliebteste öffentlich-rechtliche Anstalt ist der MDR, der im Samstags-Special der SZ übrigens keine Erwähnung fand. Der Sender ist derart einmalig, dass uns nicht eimal eine passende Vossianische Antonomasie einfallen mag. Oder vielleicht doch: Der MDR ist der Hans-Peter Friedrich unter den ARD-Anstalten. Hm. Der Spiegel schreibt jedenfalls: „Der MDR schlittert in die nächste Affäre“ (S. 166). Tatsächlich sind es seit dem Wochenende gleich zwei neue, aber beginnen wir mit der, die der Spiegel aufgedeckt hat. Der Vorwurf lautet folgendermaßen:

„Die Kanal-Spitze soll einst den Bau von Sendergebäuden dubiosen Fonds überlassen haben,um die Immobilien zu teilweise überteuerten Mieten wieder zu übernehmen. (...) Diesmal lässt sich die Verantwortung im MDR nicht mehr auf Einzeltäter schieben. (...) Die neuen Vorwürfe sind grundsätzlicher Art, sie legen den Verdacht systemischen Kontrollversagens nahe, und sie reichen zurück bis in die Geburtsphase des öffentlich-rechtlichen Senders.

Profitiert hätten „Banken und vermögende Privatpersonen“:

„Letztlich verhalf der MDR ihnen zu einem risikolosen Investment inklusive Steuervorteilen und satten Renditen.“

Ausnahmsweise finanziell profitiert hat der MDR dagegen von einem Auftritt seines Fernsehballetts, nur dummerweise - und da wären wir dann beim zweiten Skandal - klebt Blut an dem Geld. Der Kölner Stadt-Anzeiger fasst entsprechende Enthüllungen der Bild am Sonntag zusammen. Demnach sind die mitteldeutschen Tänzer bei einer Geburtstagsfeier der tschetschenischen Despoten Ramsan Kadyrow aufgetreten. Zugegeben: So etwas hätte man nicht einmal dem MDR zugetraut.


Altpapierkorb

+++ Heute startet im ZDF „die mit 25 Millionen Euro teuerste TV-Produktion Europas“ (taz), deren sechs Teile aber, wie die FAZ am Samstag berichtete, immer noch günstiger sind als ein neunteiliges Konkurrenzprodukt aus den USA, das im November in neun Teilen bei Pro Sieben läuft. Es geht um die Renaissance-Familie Borgia. „Auch Kostümfilmhasser müssen zugeben, dass ‚Borgia‘ auf eine Unterhaltungsfernsehen-Art gut aussieht“, meint die FAZ dazu (noch nicht online). Die taz konstatiert „ein Bombast-Posing“, und Willi Winkler argumentiert in der SZ unter anderem auch politisch: „Dieser oft grausame Reigen aus Intrigen, Sex, Machtgier und dem geborgten Prunk einer langversunkenen Epoche“ sei „großes Fernsehkino“, man könne sich schön gruseln „vor einer machtbewussten Kirche, die sich nicht mit Quisquilien wie liturgischen Reformen oder dem Einsatz von Kondomen im südlichen Afrika abgab, sondern ihre Macht mit der heiligen Inquisition und in langwierigen Kriegen gnadenlos behauptete“.

+++ Der Spiegel (S. 163) und der Tagesspiegel haben „Borgia“-Darstellerin Andrea Sawatzki interviewt. Im Spiegel sagt sie, der „Umgang“ sei in der Renaissance „roher“ gewesen: „Ich fände es falsch, das in weiches Fernsehlicht zu tauchen und mit Romantik zu übersprühen. Trotzdem schaut die Kamera weg, wenn Nägel durch Hände gestoßen werden.“ Gegenüber Simone Schellhammer im Tagesspiegel äußert sich Sawatzki zu den Rahmenbedingungen für die Schauspieler: „Es wurde von uns erwartet, dass wir in dem Zeitraum keine andere Produktion annehmen, jederzeit verfügbar sind und immer wieder lange Strecken in Prag am Set verbringen. (..) Das war sehr aufregend, weil die Barrandov-Studios, in denen die Sixtinische Kapelle, der Vatikanspalast und der Petersplatz nachgebaut wurden, so gewaltig sind.“

+++ Noch ein Interview: dwdl.de hat - unter anderem, weil bald die fünfte Staffel von „Stromberg“ ansteht - mit Hauptdarsteller Christoph Maria Herbst gesprochen und ihn beispielsweise gefragt, was er dank der Arbeit an dieser Sendung „über Arschlöcher gelernt“ hat: „Ich habe das Gefühl bei Menschen, die mir begegnen, noch genauer zu gucken als ich es eh schon getan habe. (...) Ich decke noch schneller prätentiöses Verhalten auf. Das ist in unserer Branche nicht gerade ein Segen, weil sie gespickt ist von genau diesen Untugenden. Deswegen halte ich mich von ihr ja meistens fern.“ 

+++ Der New Yorker porträtiert Jill Abramson, die neue Chefredakteurin der New York Times (siehe Altpapier) und rekapituliert ihre ersten Wochen in dem Job.

 +++ Inwieweit ein Urteil, das der Kartellsenat des Bundesgerichthofs morgen fällen wird, maßgeblich für die Pressefreiheit ist, steht in der taz (Disclosure: Artikel ist von mir). Oder um es mit der FAZ (S. 17) zu sagen: „Am Dienstag droht der Anfang vom Ende des deutschen Pressevertriebssystems. Der Bundesgerichtshof wird sein Urteil darüber verkünden, ob der Bauer-Verlag (...) rechtmäßig einen Pressegroßhändler gekündigt hat.“ Mit der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc hat Bauer auch gerade Ärger (Hamburger Abendblatt).

+++ Michael Moorstedt würdigt in den „Nachrichten aus dem Netz“ für die SZ die Rubrik „IamA“ des News-Aggegators Reddit. Dort habe kürzlich ein „Mitglied eines Online-Zensurausschusses in einem nicht näher genannten arabischen Land (...) einen erstaunlich freimütigen Einblick hinter die Kulissen“ gegeben. „Seinen eigenen Hinweisen zufolge dürfte es sich dabei entweder um die Vereinigten Arabischen Emirate oder Qatar handeln.“

+++ Die Bürgerjournalismus-News-Plattform Blottr startet bald in Deutschland (The Next Web).

+++ Und wer es bedauert, dass die Journalisten-Organisation Freischreiber nun doch nicht die fieseste Redaktion der Republik wählen lassen will, kann hier abstimmen.

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

 

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