Der Landarzt kommt unangemeldet. In seinem Renault Scénic RX4, einer Art Geländewagen, rumpelt er durch die Pfützen auf den Hof eines backsteinernen Bauernhauses. Kaum steht der Wagen, stößt Eberhard Meyer die Tür auf und hüpft heraus. Vor dem Treppenaufgang hat ein Hund die Pfote eines geschlachteten Kaninchens abgelegt. Eberhard Meyer sieht sie nicht. So was liegt eben manchmal rum, hier auf dem Land, im südlichen Mecklenburg, nahe der brandenburgischen Grenze. Er tritt fast auf das fellige Etwas, aus dem Adern hängen wie Elektrokabel, die ins Leere laufen. Anzuklopfen braucht er nicht, Erna Jürgens* hat schon aufgemacht. Sie lacht, aber bevor sie etwas sagen kann, schallt es ihr entgegen: "Guten Morgen, liebe Sorgen!" Der Standardgruß von Eberhard Meyer, dem Landarzt aus dem Dörfchen Schwarz.
Heute Grippeimpfung
Eberhard Meyer, Facharzt für Allgemeinmedizin, setzt sich auf die durchgesessene Couch im Wohnzimmer von Familie Jürgens. Erna Jürgens, sie mag so Mitte 70 sein, hat den Ärmel ihres Kittels hochgeschoben und wartet auf die Spritze mit der Grippeimpfung. Ihr Haar ist so dünn, dass die Kopfhaut durchschimmert; die Arbeit auf dem Hof hat ihren ohnehin schon kleinen Körper noch kleiner gemacht. Meyer setzt die Spritze, sie verzieht keine Miene und redet drauflos, als könnte sie den Pieks der Nadel wegdiskutieren. "Mensch, Doktor, beinahe hab ich einen Sturz gedreht." Auf der hohen Stirn des Arztes zeichnen sich Sorgenfalten ab, aber bevor er antworten kann, kommt Herr Jürgens rein, ein Bauer mit rauen Händen und grauen Haaren, die lustig nach oben stehen.
"Heute Grippeimpfung!", begrüßt ihn Eberhard Meyer. "Ach so." Herr Jürgens lässt sich in einen Sessel plumpsen. Von der Deckenlampe baumelt ein Plastikstreifen bis fast auf den Wohnzimmertisch herab, viele Fliegen kleben daran. Einige ringen noch mit dem Tod, aber sie werden nicht davonkommen. "Du, Eberhard", setzt Herr Jürgens mit schwerer Stimme an, "brauchst mir auch keine Antwort geben, aber die Leute erzählen, du willst aufhören und nach Diemitz ziehen." Seine Stimme schnaubt die Frage mit Nachdruck heraus, als hätte er seinen Landarzt lange schon mal fragen wollen, wie es weitergehen soll. Die Jürgensens kennen ihren Doktor seit 31 Jahren. Sie wissen, dass ihr Landarzt im April 62 Jahre alt wird. Meyer beruhigt sie, als er die leeren Ampullen wegräumt. Eine Weile wird er noch kommen, erzählt er, aber ja, er habe schon mal nach schönen Höfen in der Region geguckt. Die Jürgensens sind erleichtert und schenken ihm zwei große Kürbisse aus ihrem Garten.
Ärzte sollen länger als bis 65 arbeiten
In Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen gibt es ein Problem mit den Ärzten - sie werden alt: Weil vor dem Mauerbau 1961 viele Mediziner in den Westen gingen, beschloss das DDR-Regime, in kurzer Zeit viele Ärzte auszubilden. Die sind heute alle etwa gleich alt - und hören bald auf: In Mecklenburg-Vorpommern wird in sechs Jahren mehr als ein Drittel aller Hausärzte an der Schwelle zum Ruhestand stehen. Jetzt ermutigen Ministerien, Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen die Ärzte im Osten, länger als nur bis 65 zu arbeiten.
Eberhard Meyers Arbeitstag hat morgens um halb acht in seiner Praxis begonnen, am Schreibtisch des Sprechzimmers mit der Nummer zwei. Vor ihm liegt ein Stapel Krankenakten, ganz oben ein Autoschlüssel. Gleich wird er, wie immer dienstags, zu seiner Besuchstour aufbrechen, die ihn an diesem Tag auch zu den Jürgensens führen wird. Meyer sieht müde aus, fast schon grau, der akkurat getrimmte Bart versteckt sich in seinem Gesicht. Nur seine kleinen Augen sind schon unruhiger als der Rest an ihm. Länger als bis 65 arbeiten? Mit heiligem Zorn platzt es aus ihm heraus. "Mit 65 ist Schluss, ich arbeite keine Sekunde länger." Jetzt ist die Müdigkeit weg, die kleinen Augen blitzen, und die Stimme bebt nach kurzer Pause wütend hinterher. "Keine Sekunde länger - in diesem menschenverachtenden System!"
Netto pro Hausbesuch 2,50 Euro
Meyer schimpft immer noch, als er mit seiner schwarzen Tasche und einem kleinen blauen Köfferchen mit Grippeimpfstoff vor die Tür des roten Klinkerbaus, Baujahr 1991, tritt, in dem er seine Praxis hat. Es regnet in Strömen, das hebt die Stimmung nicht gerade, und die Fakten, die er als ungerecht empfindet, sprudeln nur so aus ihm heraus. Da hat sich was angestaut, und Meyer scheint ganz froh, wenn er mal alles rauslassen kann. Pro Hausbesuch bekommt er elf bis 17 Euro plus drei Euro Fahrtgeld. Brutto. Allerdings nicht im Altersheim, das er gerade ansteuert, da gilt das nur für den ersten Patienten. Für die "Mitbesuche" gibt es nur sechs bis sieben Euro. Und netto bleiben pro Hausbesuch ohnehin nur 2,50 Euro, sagt der Arzt.
In Ostdeutschland mussten sich die Ärzte bislang mit 80 Prozent der Westhonorare begnügen, obwohl sie häufig mehr Patienten behandeln; auch mehr ältere und kranke. Damit sich junge Ärzte im Osten niederlassen, sollen es ab diesem Jahr 90 Prozent sein. Das glaubt Meyer erst, wenn er das Geld auf dem Konto hat. Das Geld ist für ihn auch gar nicht das Hauptproblem. "Reich wird man nicht, aber man kommt hin."
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