Alles fing mit der "Campaign for Nuclear Disarmament", der Kampagne für nukleare Abrüstung, an, die am 15. Januar 1958 in England gegründet wurde. Ihr Präsident war der zweifache Nobelpreisträger Lord Bertrand Russell, der Vorsitzende des Exekutivkomitees war der Domherr der Londoner St.-Pauls-Kathedrale, John Collins. Der linke Labour-Flügel und viele Gewerkschaften waren Träger der CND, die sich bald auf über 450 Lokalgruppen stützen konnte.
Als erste größere Aktion erregte ein Sit-in von etwa 1.000 Atomwaffengegnern vor dem Parlament weltweites Aufsehen. Zu Ostern gab es dann einen viertägigen Protestmarsch von London zu dem 83 km entfernten Atomwaffenlaboratorium Aldermaston. Damit war eine neue Form des Protests entstanden, die in vielen Teilen der Welt zum Beispiel wurde, um gegen den Wahnsinn der Atomrüstung zu protestieren.
Die Aktion hatte großen Anklang. 1960 beteiligten sich bereits 50.000 Menschen – jung und alt – an der Abschlusskundgebung. Sie standen für viele: 85 % der Briten lehnten nach einer Gallup-Umfrage das atomare Wettrüsten ab.
Der Protest brauchte Mut
Die Märsche standen unter dem runenartigen Zeichen des sterbenden römischen Kriegers oder, wie andere das Zeichen deuteten, als übereinander kopiertes N und D aus der Flaggensignalsprache. ND stand demnach für "nuclear disarmament" (nukleare Abrüstung). Das Peace-Zeichen hat sich seitdem in der ganzen Welt verbreitet und wird bis heute neben der berühmten Picasso-Taube überall verwendet.
1958 fuhr Konrad Tempel (Foto unten) – Pazifist und Quäker aus Hamburg – zum Ostermarsch nach England und berichtete anschließend begeistert vor Gruppen von Kriegsdienstverweigerern in Hamburg, Hannover, Braunschweig und Bremen von den Aktionen dort. Diese beschlossen, 1960 auch in Deutschland zu marschieren.
Im Deutschland des Jahres 1960 Ostermärsche zu veranstalten, war alles andere als ein Zuckerschlecken. Es herrschte die hohe Zeit des Kalten Krieges, die auf allen Seiten verbunden war mit der drohenden Aussage: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich! Da wollte es bei solcher Ost-West-Feindschaft schon etwas heißen, wenn normale Menschen es wagten, gegen Atomwaffen in Ost und West zu protestieren.
Zwar hatte es in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre bereits die Proteste "Kampf dem Atomtod" (KdA) gegeben. Diese wurden von SPD, Gewerkschaften, Evangelischer Kirche und einzelnen Persönlichkeiten organisiert. Man konzentrierte sich auf die atomare Bedrohung und erreichte eine erhebliche Breite der Auseinandersetzung. Die KdA-Bewegung bestimmten weitgehend Großorganisationen, allen voran die SPD, politisch, finanziell und organisatorisch. Daneben gab es unabhängige Neutralitäts- und Friedensgruppen.
Die Kehrtwende der SPD: Ja zur Wiederbewaffnung
Mit einer gewissen Berechtigung kann man sagen: Die außerparlamentarische Opposition als unabhängige Friedensbewegung wurde durch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bewirkt. Es begab sich nämlich zu der Zeit in Bad Godesberg 1959, dass die SPD ihre Aktion "Kampf dem Atomtod" abrupt beendete.
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Herbert Wehner hatte erkannt, dass die SPD niemals an die Regierung kommen würde, wenn sie sich nicht auf Adenauers Linie der Wiederbewaffnung Deutschlands einließe. Über eine große Koalition konnte der Weg zur Macht geebnet werden, wenn nur die größten Stolpersteine beseitigt würden. Einer der größten war die Ablehnung jeglicher atomarer Waffen durch die Partei. So wurde der KdA auf allen Ebenen eingestellt.
In dieser Situation veranstalteten nun pazifistische Gruppen in Norddeutschland 1960 den ersten Oster-Sternmarsch, woraus sich die bundesweite, unabhängige, außerparlamentarische Opposition entwickelte. Zunächst firmierte sie unter dem Namen "Ostermarsch der Atomwaffengegner gegen Atomwaffen in Ost und West" und nannte sich in den späten Sechzigerjahren "Kampagne für Demokratie und Abrüstung".
In einem drei- bis viertägigen Sternmarsch marschierte man nach Bergen-Hohne, wo die US-Army ihre Honest-John-Raketen als Träger für Atomwaffen erprobte. Kriegsdienstverweigerung und Pazifismus waren mitten im Kalten Krieg zwischen Ost und West noch sehr randständig, und Bergen-Hohne in der Heide war umlagert von Orten mit deutlich nationalsozialistischer Vergangenheit und entsprechendem Denken in der Bevölkerung. Da mussten wir durch.
Schneegestöber und seltsame Fantasien
Das Unternehmen wurde von Ost und West, von Linken und Rechten mit Häme und Spott überschüttet. "Naive Sektierer" und "idealistische Spinner" waren noch die freundlichsten Bezeichnungen für uns. Die Diffamierungsmaschine lief auch auf einer anderen Ebene: Ein bekanntes Boulevardblatt schrieb über "Sex auf dem Ostermarsch". Der Hintergrund: Wir hatten Turnhallen für die Übernachtungen angemietet. Dort nächtigten die Marschteilnehmer gemeinsam - offenbar Grund genug für wilde Fantasien der Journalisten.
Der erste Ostermarsch der Atomwaffengegner war allerdings alles andere als eine Massenbewegung. In Braunschweig standen wir - 24 Frauen und Männer - zwischen zwei Stützpfeilern einer Kirche, deren Pfarrer uns mit bewegenden Worten in die kalte, neblige Landschaft schickte. Ich selbst wäre lieber zwischen den Pfeilern stehen geblieben. Zumal die meisten von uns das Demonstrieren noch nicht gewöhnt waren. Drei Tage Marsch bei Kälte und Schnee und vielen Anfeindungen - wir lernten schnell, wie wichtig die Gruppe für unsere seelische Stabilität war.
Am Tag der Vereinigung mit den anderen "Marschsäulen" war es eine große Erleichterung zu sehen, wie viele andere den Protest mittrugen. In Bergen-Hohne angekommen, wurden vom Dach eines VW-Busses Reden gehalten und der Protest gegen Atomwaffen in Ost und West verkündet. H. G. Friedrich, der Vorsitzende unserer Braunschweiger Gruppe "Internationale der Kriegsdienstgegner", versagte vor Tränen und Rührung die Stimme, als er vom Bus aus sah, wie viele sich doch zusammengefunden hatten. Es waren mehrere Hundert. Heute fände eine so kleine Versammlung kaum noch jemand erwähnenswert.
Das Wunder von Bergen-Hohne
Wirklich Aufregendes geschah jedoch erst in der Zeit nach Ostern 1960. Viele politische und religiöse Gruppen entdeckten den Ostermarsch als eine fabelhafte Möglichkeit, gemeinsam mit anderen und auch durchaus unterschiedlich Gesinnten gegen Atomwaffen zu protestieren. Die bunte Bewegung breitete sich in Windeseile über die ganze Bundesrepublik aus, arbeitete während des ganzen Jahres und nicht nur zu Ostern und erweiterte ihre Thematik. Aus ihr entstand die "Kampagne für Demokratie und Abrüstung", eine Art Urmutter der neuen sozialen Bewegungen.
Mit der Ausweitung und Verbreiterung der Ostermärsche geschah ein zweites Wunder: Viele der sonst so disziplinierten SPD-Genossen konnten die Haltung ihrer Parteiführung nicht begreifen, nach der ihr einst so wichtiger Kampf gegen den Atomtod nun etwas Verabscheuungswürdiges sein sollte. Sie verweigerten ihrer Führung in diesem Punkt die Gefolgschaft. Das hat uns sehr gefreut, aber auch die unerbittliche Feindschaft von Wehner und anderen eingetragen, die damals vor keiner Diffamierung zurückschreckten.
Kampagne finanziert sich selbst
Die Ostermarsch-Kampagne wuchs zu einem breiten Bündnis aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus und politischen Lagern, finanzierte sich selbst und war von keiner Partei und keiner Großorganisation abhängig. Es entwickelte sich ein dichtes Netz lokaler Gruppen. Diese erste über die gesamten Sechzigerjahre hinweg auf breiter sozialer Basis arbeitende "neue soziale Bewegung" bezeichnete sich selbst als außerparlamentarische Opposition.
Seit Mitte der Sechzigerjahre spielte das Thema Vietnam bei den öffentlichen Protesten der Ostermarsch-Bewegung eine zunehmende Rolle und wurde bis zum Abzug der USA aus Vietnam 1973 intensiv verfolgt. Durch den Vietnam-Krieg wurde das für Demokratie und Menschenrechte stehende Vorbild USA zutiefst in Frage gestellt. Die Außen- und Militärpolitik der USA und des Westens insgesamt wurde als imperialistische Machtausübung kritisiert. Nun stand die Kritik des Kapitalismus auf der Tagesordnung.
"Die Gesellschaft verändern"
1968 marschierten Ostblock-Staaten in die Tschechoslowakei ein, was die Zusammenarbeit der heterogenen Teile der Kampagne außerordentlich belastete. Ende der Sechzigerjahre war die Kampagne - auch durch den Einfluss der Studierenden - derart politisiert, dass sie sich zugunsten vieler Reformprojekte in fast allen gesellschaftlichen Bereichen auflöste.
Man wollte die Gesellschaft verändern. Es war die Zeit der Entspannungspolitik während der Kanzlerschaft von Willy Brandt, und soziale, entwicklungs- und frauenpolitische Probleme beschäftigten die Menschen damals mehr als die vermeintlich nachlassende Bedrohung durch Atomwaffen und Krieg. Die Friedensbewegung sank so nach dem Ende des Vietnam-Kriegs in einen Dornröschenschlaf zugunsten anderer Aktivitäten. Damit war die Rolle der Ostermarsch-Bewegung, der "Kampagne für Demokratie und Abrüstung" als Kern der neuen sozialen Bewegung und der außerparlamentarischen Opposition, beendet. Sie löste sich 1970 auf.
Die Ostermärsche der späteren Zeit hatten und haben bis heute einen ganz anderen Charakter. Sie sind eine der vielen Aktionsformen der Friedensbewegung, die sich erst im Protest gegen den NATO-Doppelbeschluss (Bild links) in den Achtzigerjahren wieder voll entfaltete.
Was wurde erreicht?
Darauf gibt es nur differenzierte Antworten: In der schwierigen politischen Landschaft des Kalten Krieges der Sechzigerjahre hat die Kampagne große Teile der Bundesrepublik erfasst und eine breite öffentliche Diskussion entfachen können. Viele Menschen wurden ermutigt, öffentlich für ihre friedenspolitische Haltung einzustehen, die politische Mobilisierung war immens.
Das Thema Gewalt und Gewaltfreiheit in der Politik erstreckt sich bis in die Gegenwart, und über die Möglichkeiten ziviler Konfliktbearbeitung wird heute anders diskutiert. Und nicht zu vergessen: Die "Kampagne" erweiterte auch den Boden für die gesellschaftliche Akzeptanz der Kriegsdienstverweigerung.
Die Kampagne hat vielfältige, lebensbejahende, fröhliche Formen der Demonstration und der Kommunikation entwickelt und Gruppengeselligkeit in diese oft schwierige Arbeit eingebracht. Kulturell-politische Veranstaltungen und Lieder spielten eine große Rolle. Die internationale Zusammenarbeit mit vergleichbaren Initiativen half mit, über Grenzen zu denken.
1971 wurden auf Anregung von Bundespräsident Gustav Heinemann die "Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung" und in der Folge Friedensforschungsinstitute gegründet.
Was bleibt?
Die Märsche zu Ostern sind inzwischen ein Bestandteil der Protestkultur der Friedensbewegung in Deutschland. Die Menschen haben viel über militärisches Denken und Strategien gelernt, aber auch, dass man sich wehren kann und dass es möglich ist, viele zu erreichen.
78 Veranstaltungen und Aktionen zählt das Netzwerk Friedenskooperative in diesem Jahr - die Ostermarschbewegung lebt und ist wichtiger denn je.
Andreas Buro ist friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie in Köln. Berichte aus den Anfängen der Friedensbewegung, aber auch aus jüngerer Zeit hat er in dem Buch "Geschichten aus der Friedensbewegung - Persönliches und Politisches" gesammelt.