Skateboarder in Afghanistan: Vier Rollen für den Frieden

Skateboarder in Afghanistan: Vier Rollen für den Frieden
Es gibt viele Kinder in Kabul. Nicht wenige sind arm, und gerade die Mädchen haben kaum Aussicht auf Ausbildung und Beruf. Ob ein Skateboard daran was ändert? Ja, sagt der Gründer von "Skateistan". Sport macht stark und selbstbewusst.
16.03.2010
Von Sergio Ramazzotti

Fasila ist zwölf Jahre alt, und sie hat in ihrem kurzen Leben schon viel gesehen: Flüchtlingslager in Pakistan, in denen sie ihr halbes Leben verbracht hat, davor Krieg, Bombardierungen, Angst und Hoffnungslosigkeit in den Augen der Erwachsenen. Bevor sie vor einem Jahr auf einen jungen Australier in den Straßen von Kabul getroffen war, hatte sie allerdings noch nie ein Skateboard gesehen. Die Begegnung hat ihr Leben verändert.

Bis dahin hatte sie von morgens bis abends im Zentrum von Kabul gebettelt, um vielleicht zwei US-Dollar pro Tag zusammenzubekommen. Ihre Eltern, Flüchtlinge aus Kunduz, die vor kurzem nach Afghanistan zurückgekehrt waren, hatten Fasila aus der Schule genommen und auf die Straße geschickt, weil sie selbst keine Arbeit finden konnten.

Jeden Tag zum Unterricht

Oliver Percovich, ein 35-jähriger Australier, war wie gewohnt mit ein paar Dutzend Kids seiner Skateboardschule unterwegs, als Fasila näher kam und schüchtern fragte, ob sie auch mal ein Board ausprobieren dürfe. Percovich gab ihr eins. "Ich sah sofort, dass sie ein Naturtalent ist." So lud er sie ein, am nächsten Tag wiederzu­kommen und auch am darauffolgenden Tag. "Nach einem Monat dachte ich, sie könnte eine gute Lehrerin sein. Sie erzählte mir ihre Geschichte, und so besuchte ich ihre Eltern." Der Australier bot ihnen an, Fasila für das gleiche Gehalt einzustellen, das sie sonst auf den Straßen erbettelte, mit der Bedingung, dass sie wieder in die Schule gehe. Die Familie stimmte zu, und jetzt läuft Fasila jeden Morgen zum Unterricht und bringt nachmittags von 15 bis 18 Uhr anderen Kindern das Skateboardfahren bei.

Bis vor drei Jahren hatte Oliver Perco­vich noch nicht einen ausführlicheren Gedanken an Afghanistan verschwendet. Er lebte in Melbourne, als professioneller Skater mit einem Hochschulabschluss in Chemie und als Sozialarbeiter in verschiedenen sozialen Projekten mit Aborigines in Zentralaustralien. 2007 eröffnete ihm seine Freundin, sie werde beruflich nach Kabul gehen, und Percovich entschied sich, ihr zu folgen. Sein Plan: eine Skateboardschule zu eröffnen.

Warner und Mahner

"Meine Freunde in Melbourne dachten, ich sei völlig verrückt geworden, als ich ihnen davon erzählte", sagt er. Percovich aber war überzeugt davon, dass so ein Projekt afghanischen Kindern Mut machen könne. Mit etwa 1.000 Dollar in der Tasche und ein paar Skateboards kam er in Kabul an. Ein paar Kinder in der Stadt machten von Anfang an begeistert mit, Helfer und Sponsoren fanden sich auch, und bald hatte Percovich genug Geld für den ersten Skatepark in Afghanistan zusammen. Aus einem kleinen Klub wurde eine Organisation, die jetzt ein paar Hundert Kinder betreut.

Skateistan, zunächst 1.750 Quadratmeter groß, entstand ganz in der Nähe des olympischen Stadions, wo einst die Taliban ihre Gegner öffentlich hinrichteten. Als Percovich anfing, lernte er erst einmal viele Warner und Mahner kennen. "Mir wurde geraten, nicht mit Mädchen zu skaten, weil das auf Kritik stoßen könnte, nicht in den Straßen zu skaten, weil es gefährlich sei, und mich nicht mit armen Kindern einzulassen, weil die mich beklauen könnten. Nichts davon ist passiert, ich hatte noch nie irgendwelche Probleme mit den Kids." Percovich ist davon überzeugt, dass er einen effizienten Beitrag zum Aufbau Afghanistans leistet, wenn er intensiv mit den Kindern arbeitet. "Was Afghanistan braucht, ist ein neues Selbstbewusstsein. Ich glaube, dass man das mit den Kindern erreichen kann. Viele Hilfsorganisationen sagen ihnen, was sie tun oder was sie wissen sollten, aber es ist wichtig, dass die Kinder selber entscheiden."

Meistens kommen ein paar mehr Jungen als Mädchen zu den Sessions, aber Percovich und seine Helfer reservieren immer die Hälfte der Boards für die Mädchen, damit jede, die kommt, auch mitmachen kann. Die Jungen müssen teilen und sollen so das ­"Konzept der Gleichberechtigung" lernen.

Die Leben der Kinder grundlegend verändern

Fasilas Leben ist nicht das einzige, das sich durch Skateistan grundlegend geändert hat. Mirwais ist ebenfalls zwölf, aber er sieht sehr viel älter aus, obwohl er so klein ist. Mirwais schnüffelte Klebstoff, und ab und zu verdiente er als Autowäscher ein bisschen Geld. "Mit uns", sagt Percovich, "und mit der Zeit wuchs er zu jemandem heran, der Verantwortung übernimmt und an seinem Verhalten arbeitet. Er arbeitet jetzt als Lehrer - offenbar sind wir auf dem richtigen Weg. Wenn wir ihm helfen konnten, können wir auch anderen helfen."

Doch nicht jede Geschichte nimmt ein gutes Ende. Mirwais Bruder war auch ein paar Mal in Skateistan. "Dann rannte er von zu Hause weg, weil der Vater ihn schlug. Offensichtlich hatte er nicht genug Geld nach Hause gebracht, vielleicht wurde er mit Mirwais ver­glichen, der jetzt ein festes Gehalt hat." Der Bruder flüchtete bis in den Iran, wo er nun Autos wäscht. "Als wir das letzte Mal mit ihm gesprochen haben, stand er unter Drogen und wurde angeblich gefangen gehalten. Er sagte uns, sie ­würden ihn gehen lassen, wenn wir Hunderte von Dollars zahlen würden. Wäre ich sicher, dass ich ihn dadurch ­zurückholen könnte, ich würde ihm das Geld geben."

Percovich ist ein Träumer und ein Visionär, aber er kennt die Grenzen seines Projekts. Er weiß, dass weder ein paar Boards noch ein ganzer Skatepark das zerrüttete Land wieder aufbauen oder die Wirtschaft ankurbeln können. Aber selbst der schärfste Kritiker wird zum Skateistan-Fan, wenn er auf der Straße das Lachen der Kinder mit den Skateboards hört - in Kabul haben Kinder nicht so viel zu lachen.
Dabei gibt es so viele von ihnen. Etwa 45 Prozent der Afghanen sind jünger als 15. Kinder werden verheiratet, Kinder ­müssen arbeiten, viele schon mit fünf Jahren. "Was mich be­sonders traurig macht, ist, dass die meisten Kinder nicht zur Schule gehen", sagt Oliver Percovich. "Es ist vielleicht ein Drittel, und von denen finden dann auch nur wenige danach eine Stelle. Es gibt nur sehr wenige Möglichkeiten für sie, und so packen sie jede Gelegenheit beim Schopf."

Fernhalten von Drogen

In noch nicht einmal drei Jahren ist Skateistan enorm gewachsen. Eine Halle mit Halfpipes und Ramps ist dazugekommen, Schulräume, in denen Percovichs Helfer die Kinder unterrichten - tageweise abwechselnd Mädchen und Jungen. Auf dem Stundenplan stehen Englisch, Friedensarbeit und Teamwork. Die Zahl der Unterstützer hat sich in kurzer Zeit vervielfacht. Zuschüsse kamen von Regierungen in Deutschland, Skandinavien, Kanada, auch die afghanische Regierung unterstützt das Projekt weiter, internationale Hilfsorganisationen engagieren sich, freiwillige Helfer, private Unternehmen. Skateistan ist längst im Internet präsent, da kann man ­Sponsor werden und ein Logo-T-Shirt kaufen. In Monaco konnte Oliver Percovich im November einen der Awards des "Peace and Sport"-Forums entgegennehmen - als beste Nichtregierungsorganisation des Jahres.

Ein Skateboard, sagt er halb scherzhaft, ist eine billige Art, um Kinder von Drogen, Kriminalität und der Versuchung des Terrorismus fernzuhalten. "Die Kinder in Afghanistan müssen schnell groß werden, und doch sieht man, dass sie einfach nur Kinder sein wollen. Sie leben in einem komplizierten Land, und sie neigen dazu, die schlechten Gewohnheiten, die sie um sich herum sehen, anzunehmen. Wir versuchen, ihnen ein sicheres und positives Umfeld zu schaffen. Ich glaube, das gelingt."

Kein Militär

Fühlt sich Percovich selbst denn sicher in Kabul? Absolut, sagt er. Er versuche allerdings auch, so unauffällig wie möglich zu bleiben. "Die Afghanen sind ein gastfreundliches Volk und haben mir geholfen, mich hier zu Hause zu fühlen. Die Gefahren, denen ich begegnet bin, gingen mit Sicherheit nicht von der Bevölkerung aus." Im Gegenteil, oftmals kamen Erwachsene in traditioneller Kleidung näher und schauten neugierig zu, bis sie beschlossen, es dann auch mal zu versuchen. "Man braucht nicht mehr Militär, um die Situation hier zu verbessern, mehr Truppen bedeuten mehr Gewalt." Alle Länder, die in den Afghanistankonflikt involviert seien, konzentrierten sich zu sehr auf die Sicherheitsfrage. "Sie versuchen nicht, die Gedanken und die Herzen der Menschen zu gewinnen."

"He, Olli", sagt ein kleiner Junge und zupft an Percovichs Pullover. Und dann zeigt ihm der Australier, wie man den Helm aufsetzt, den Führfuß richtig aufs Brett stellt und sich mit dem anderen Fuß nach vorn pusht. Der Kleine kommt nicht weit, bevor das Board außer Kontrolle gerät. Aber bevor er fällt, wirft er noch einen Blick zurück zu seinem Lehrer und strahlt.


Dieser Text stammt aus der aktuellen Ausgabe des evangelischen Monatsmagazins "chrismon".