Hochbegabte: "Sonderlinge mit Brille und Eierkopf"?

Hochbegabte: "Sonderlinge mit Brille und Eierkopf"?
Zwei bis drei Prozent der Kinder gelten als hochbegabt. Sie langweilen sich im Unterricht, schalten einfach ab, oder entwickeln sich zum Störenfried. Experten fordern eine individuelle Förderung.
15.03.2010
Von Barbara Driessen

Lottes Eltern wissen noch genau, wann sie das erste Mal richtig stutzig wurden. Als Lotte gerade ins erste Schuljahr gekommen war, überlegte sie sich selbstständig: -3 - 4 = - 7. "Ist doch klar", erklärte die damals knapp 6-Jährige ihrer verdutzten Mutter, "das geht ja dann in die andere Richtung vom Zahlenstrahl." Schon vorher war Andrea Jürich aus Köln aufgefallen, dass ihre Tochter für ihr Alter immer ziemlich weit war. "Mit 14 Monaten sprach Lotte in ganzen Sätzen. Und mit gut vier Jahren hatte sie sich das Lesen selbst beigebracht, kurze Zeit später auch das Schreiben." Jetzt ist Lotte gerade vom 2. ins 3. Schuljahr gesprungen, weil ihre Klassenlehrerin die Zweitklässlerin für absolut unterfordert hielt.

Zwei bis drei Prozent der Kinder gelten als hochbegabt

Eine Psychologin riet den Eltern, mit Lotte einen Intelligenz-Test machen zu lassen. "Aber das wollen wir gar nicht", sagt Andrea Jürich. Das Etikett "hochbegabt" ist ihr nicht ganz geheuer: "Denn dann müssten wir daraus ja eigentlich auch Konsequenzen ziehen." Lotte spielt nun Flöte und Violine. Auch dabei hat sie ihre Musiklehrer in Staunen versetzt.

Dabei ist Hochbegabung gar nicht so selten, wie viele denken: Etwa zwei bis drei Prozent der Kinder gelten als hochbegabt. "Man geht von 360.000 bis 380.000 hochbegabten Kindern in Deutschland aus", erläutert Psychologie-Professor Detlef Rost von der Universität Marburg, der sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigt.

Als hochbegabt gilt man mit einem Intelligenzquotienten von 130 oder höher. Zum Vergleich: Einen IQ-Wert von 100 oder mehr erreichen genau 50 Prozent der Bevölkerung, mit einem IQ von 115 gehört man zu den 16 Prozent Leistungsbesten.

Kritiker äußern Bedenken wegen Klassen-Überspringen

Hochbegabte Kinder fallen oft schon früh auf: "Bereits im Kindergarten ecken sie oft an, weil sie nicht das altersgerechte Puzzle mit 16 Puzzleteilen machen wollen, sondern lieber eines mit 100 Teilen", sagt Madeleine Majunke von der Gesellschaft für das hochbegabte Kind in Königswinter. Ihr eigener Sohn Frederik ist vom 1. ins 3. und dann vom 3. ins 5. Schuljahr gesprungen. "Er hat sich einfach ganz furchtbar gelangweilt und wollte gar nicht mehr in die Schule gehen."

Die von vielen Kritikern vorgebrachten Bedenken, das Klassen-Überspringen könne sozial nicht gut fürs Kind sein, teilt Majunke nicht: "Er ist prima mit den neuen Klassenkameraden zurechtgekommen und wurde auch gleich zum Klassensprecher gewählt." Bedauerlich fand sie nur, dass er am Tag der Abi-Feier mit seinen Schulkameraden durch die Kneipen ziehen wollte, aber mit gerade einmal 17 bei der Ausweiskontrolle am Eingang durchfiel.

Die Gesellschaft für das hochbegabte Kind mit bundesweiten Vertretungen berät Eltern und stellt Kontakte zu anderen hochbegabten Kindern her. "Uns geht es darum, dass diese Kinder in ihrer Einzigartigkeit angenommen werden. Sie wollen akzeptiert werden und sollen sich normal entwickeln können."

"Sonderlinge mit Brille und Eierkopf"

Detlef Rost von der Uni Marburg räumt mit dem Vorurteil auf, Hochbegabte seien "Sonderlinge mit Brille und Eierkopf": "Sie sind im Durchschnitt nicht auffälliger als Normalbegabte." Rost hält wenig davon, hochbegabte Kinder auf Eliteschulen zu schicken: "Sie werden später zu 98 Prozent mit anderen Normalbegabten zu tun haben, also sollten sie auch schon früh lernen, mit ihnen auszukommen."

Die Regelschule sei besonders wichtig für die Sozialisierung. Essenziell sei jedoch, die Kinder innerhalb des Klassenverbandes zu fördern. "Hochbegabte Kinder müssen genauso individuell gefördert werden wie schwache." Er fordert daher, die Klassen zu verkleinern, die Schulen besser auszustatten und den Umgang mit Hochbegabten in der Lehrerausbildung zu thematisieren.

Verhaltensschwierigkeiten kein Anzeichen für Hochbegabung

Ganz falsch sei die Einstellung, Hochbegabte hätten keine Förderung nötig, weil sie ja eh schon schlau genug seien, sagt Madeleine Majunke. Ein Sechstel der Hochbegabten werden zu sogenannten "Underachievern" mit schlechten Schulnoten. Sie langweilen sich im Unterricht und schalten einfach ab, entwickeln sich zum Störenfried oder Klassenclown.

Verhaltensschwierigkeiten müssen allerdings keineswegs Anzeichen für Hochbegabung sein. "Nicht wenige Schüler langweilen sich und machen den Klassenkasper, weil sie überfordert sind und nicht wegen einer Unterforderung", sagt Rost.

Eine Legende sei es übrigens auch, dass Hochbegabte mit weniger Schlaf auskämen. "Totaler Quatsch", urteilt Detlef Rost: "Mich hat sogar mal eine Mutter angerufen und gefragt, ob ihre Tochter wirklich hochbegabt sein könne, sie schlafe so viel." Besorgten Eltern kann hier Albert Einstein als Vorbild dienen: Mit einem IQ von 160 kamen ihm die besten Ideen nach zwölf Stunden Schlaf.

Didacta-Verband: Mehr Geld für frühe Bildung

Der Bildungswirtschaftsverband Didacta hat mehr Investitionen in die Erziehung kleiner Kinder gefordert. "Man muss sich zunehmend auf frühkindliche Bildung konzentrieren und sie ganzheitlich stärken. Die Förderung der Kinder in den Jahren null bis sechs ist am wichtigsten", sagte Verbandspräsident Wassilos Fthenakis in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur dpa in Köln. Dort findet vom 16. bis zum 20. März die größte europäische Bildungsmesse "didacta 2010" statt.

Studien zufolge seien Bildungsinvestitionen in die ersten Lebensjahre eines Kindes besonders lohnenswert. "Die Bildung von sehr jungen Kindern ist jedoch chronisch unterfinanziert", kritisierte der Professor. Seiner Ansicht nach sollten jährlich 12 bis 14 Milliarden Euro mehr in diesen Bereich investiert werden. Das Geld solle an alle Institutionen fließen, die mit kleinen Kindern zu tun haben. Dazu gehörten neben Krippen und Kindergärten auch Familienbildungsstätten und Bibliotheken für Kinder und Eltern.

"Eltern bleiben Hauptverantwortliche für Entwicklung der Kinder"

"Das Ziel ist es, die pädagogische Qualität zu verbessern", erklärte Fthenakis. Dazu müssten mehr Pädagogen eingestellt werden. Dann käme auf jeden Betreuer eine kleinere Gruppe von Kindern, um die er sich intensiver kümmern könnte. Außerdem solle in Materialien, moderne Medien und eine bessere Ausbildung der Fachkräfte investiert werden.

"Hauptverantwortliche für die Entwicklung der Kinder bleiben jedoch die Eltern. Man muss dies anerkennen und sie ebenfalls fördern", betonte Fthenakis. Sinnvoll seien Programme zur Stärkung der Erziehungskompetenz von Eltern. An der Universität Bremen etwa laufe ein Projekt namens "Natur-Wissen schaffen", das unter anderem die Bildungsprozesse innerhalb der Familie fördert.

epd/dpa