Eine orthodoxe jüdische Familie in Breslau, insgesamt elf Kinder an der Zahl, Edith ist die Jüngste. Als sie anderthalb Jahre alt war, ist ihr Vater gestorben. Und die streng religiöse Mutter hatte die Herausforderung angenommen: Sie führte die Firma ihres Mannes, eine Holzgroßhandlung, zum Erfolg, erzog die Kinder, war Vorbild an jüdischer Gesetzestreue. Doch die pubertäre Tochter, eigensinnig und aufbrausend, gibt sich auf einmal atheistisch.
Den jüdischen Glauben abzustreifen, war im vermögenden jüdischen Bürgertum der Jahrhundertwende keine Seltenheit. Im Breslauer Gymnasium hat es in Edith Steins Klasse, in der rund ein Drittel jüdische Schülerinnen waren, nicht eine orthodoxe Jüdin gegeben. Doch auch wenn Edith, die später zu einer berühmten jüdisch-christlichen Denkerin werden sollte, sich selbst nun als Atheistin verstand, hielt sie das nicht davon ab, weiter mit ihrer Mutter zur Synagoge zu gehen. Sie tat es auch dann noch, nachdem sie 1922 zum Christentum konvertiert war. Wie passt das alles zusammen?
Vom jüdischen zum christlichen Glauben
Während ihres Lehrerstudiums in den Fächern Deutsch und Geschichte war sie, vor allem angezogen von dem Philosophen Edmund Husserl, von Breslau nach Göttingen gewechselt. Dort ließ sie sich von Menschen beeindrucken, die vom jüdischen zum christlichen Glauben gefunden hatten: Ein Dozent, Adolf Reinach, war evangelisch, der Philosoph Max Scheler katholisch geworden. Ihre evangelische Freundin Hedwig Conrad-Martius, eine Philosophin, wird ihre Taufpatin - mit Erlaubnis des katholischen Bischofs.
Ökumenischen Geist beweist sie auch, als sie im Oktober 1933 in Köln in den Orden der Karmelitinnen eintritt, einer Gemeinschaft mit strenger Klausur. Dass sie gerade diesen Orden wählte, begründete sie damit, dass hier jüdischer und christlicher Glauben eng miteinander verknüpft sind. Sie liebte die Legende, nach der der alttestamentliche Prophet Elias Stifter des Ordens ist.
Grenzen forderten sie heraus
Wenn sie zu Jesus und seiner Mutter Maria betete, sah sie in ihnen immer auch Menschen jüdischen Glaubens und "jüdischen Blutes". Sie verglich die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten mit dem Leiden und Sterben Jesu. Diesem Vorbild wollte sie folgen, sie bot in ihrem Testament vom Juni 1942 Gott ihr "Leben und Sterben" an. Edith Stein wollte zugleich Jüdin und Christin sein.
Grenzen schreckten Edith Stein nicht ab, sondern forderten sie heraus. Sie hatte sich bereits im Studium für das politische Stimmrecht der Frauen engagiert, danach für Mädchenbildung im weitesten Sinn gekämpft. Dass Frauen nur bestimmte Berufe erlernen und ausüben sollten, lehnte sie vehement ab. Und ihre politischen Ziele reichten noch viel weiter: Gegen die allgemeine Hysterie über die Versailler Verträge erhob sie ihre Stimme für eine Verständigung mit den europäischen Nachbarn, Frankreich eingeschlossen.
Verrat und Deportation
Es war für ihre Zeit äußerst ungewöhnlich, dass sie habilitieren wollte. Sie versuchte es in Göttingen, Freiburg und Breslau. Ihre akademischen Karriere hatte vielversprechend begonnen: Bei Edmund Husserl hatte sie ihre Doktorarbeit geschrieben, war dessen Assistentin geworden, ihm später nach Freiburg gefolgt. In Breslau vor allem stieß sie auf die antijüdischen Vorbehalte der Professoren. Es war schon allgemein bekannt, dass sie bereits 1930 eine Juden- und anschließende Kirchenverfolgung vorausgesagt hatte. Auch die vielversprechende Dozententätigkeit am katholischen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster, die sie erst 1932 übernommen hatte, musste sie im April 1933 aufgeben.
So trat sie im Herbst desselben Jahres in den Kölner Karmel ein, wechselte nach dem Novemberpogrom 1938 in den niederländischen Karmel von Echt. Eine Schwester des Kölner Klosters soll den Nationalsozialisten ihre jüdische Herkunft verraten haben. Der Deportation nach Auschwitz konnte Edith Stein nicht entgehen. Sie starb dort in einer Gaskammer.
Mit der Erforschung des Lebens und der Wirkung von Edith Stein befasst sich die
Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland e.V.