Neben mehr als 20 Missbrauchsfällen in den 70er und 80er Jahren am Berliner Canisius-Gymnasium durch zwei Lehrer habe es auch Fälle in Hamburg, St. Blasien, Göttingen, Hildesheim, Chile und Spanien gegeben. Das sagte der Ordenschef in Deutschland, Provinzial Stefan Dartmann, am Montag bei einer Pressekonferenz im Canisius-Kolleg. Zugleich entschuldigte er sich bei Opfern, Lehrern und Eltern für das jahrelange Schweigen. "Ich bitte um Entschuldigung für das, was von Verantwortlichen des Ordens damals an notwendigem und genauen Hinschauen und angemessenem Reagieren unterlassen wurde."
An dem Berliner Gymnasium wurden von 1975 bis 1983 mindestens 22 Kinder und Jugendliche missbraucht. Täter waren nach Angaben des Ordens zwei Patres, die als Lehrer arbeiteten. Die Berliner Staatsanwaltschaft prüft die Missbrauchsfälle. "Es spricht aber vieles dafür, dass die Taten verjährt sind", sagte Behördensprecher Martin Steltner. Das betreffe auch etwaige Vorwürfe an den Jesuiten-Orden wie Strafvereitelung oder unterlassene Hilfeleistung.
65-Jähriger Täter schrieb kürzlich Brief an die Opfer
Dartmann schloss nicht aus, dass noch weitere Missbrauchsfälle bekannt werden. "Ich bin sicher, wenn Sie nur weit genug zurückgehen in den Akten, würden Sie etwas finden." Der Ordenschef und Canisius-Rektor Klaus Mertes kritisierten den rein internen Umgang des Ordens mit den Fällen. Heute würde er auch Polizei und Staatsanwaltschaft informieren, sagte Dartmann. Damals zeigten weder die Jesuiten noch der Vatikan die Täter an. Sie wurden nach den Vorwürfen meist nur an andere Orte versetzt.
Wolfgang S. arbeitete als Deutsch-, Religions- und Sportlehrer von 1975 bis 1984 an Jesuiten-Schulen in Berlin, Hamburg und St. Blasien im Schwarzwald. Danach ging er für den Orden nach Spanien und Chile. 1991 gestand er der Kirchenleitung seine Taten gegen "Zusicherung der Diskretion", weil er aus dem Orden ausscheiden wollte. Laut diesem Geständnis kam es auch zu Missbrauchsfällen in Hamburg und St. Blasien. Dartmann sagte zudem: "Es gibt klare Hinweise in den Akten, dass er bis 1990 auch in Chile und Spanien übergriffig geworden ist." Es habe sich um "exzessive körperliche Bestrafungsrituale" gehandelt.
Der 65-Jährige lebt heute in Chile. Der frühere Lehrer wandte sich laut Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" nun in einem Brief an seine Opfer. Es sei "eine traurige Tatsache, dass ich jahrelang Kinder und Jugendliche unter pseudopädagogischen Vorwänden missbraucht und misshandelt habe", heißt es in dem Brief.
"Unangenehme Berührungen und Selbstbefriedigung"
Der andere Pater, Peter R., arbeitete von 1972 bis 1981 als Religionslehrer und Jugendseelsorger an dem Berliner Gymnasium, später in Göttingen in der Jugendarbeit, als Seelsorger in Hildesheim (beides Niedersachsen) und beim dortigen Bischof. "Wann der Missbrauch anfing, wissen wir nicht", sagte Dartmann. 1981 suchten Berliner Schüler in einem offenen Brief an die Schule und die Kirche indirekt Hilfe und kritisierten besonders eine verfehlte Sexualpädagogik.
Ende der 80er Jahre gab es laut Dartmann Hinweise auf zurückliegende Übergriffe auf Mädchen in Göttingen. Als er in Hildesheim arbeitete, beschwerte sich eine Mutter über die Belästigung ihrer Tochter. Es sei bei den Übergriffen von Peter R. um "unangenehme Berührungen und Selbstbefriedigung" gegangen, es habe keine Hinweise auf "Penetration oder Vergewaltigung" gegeben.
"Das, was viele befürchtet haben, hat sich bewahrheitet", sagte der Hamburger Bistums-Sprecher Manfred Nielen am Montag. Dort hätten sich zwei ehemalige Schüler der Sankt-Ansgar-Schule gemeldet, die Opfer des Jesuitenpaters wurden. Schüler des Kollegs in St. Blasien wurden am Montag auf einer kurzfristig einberufenen Schülerversammlung über die Vorgänge informiert.
"Das Fatale an der Verjährungsfrist zeigt sich in seiner ganzen Tragik"
Bis Mitte Februar soll ein Untersuchungsbericht erstellt werden. Der Jesuitenorden beauftragte Ursula Raue, lange Jahre Vorsitzende der Kinderschutzorganisation "Innocence in Danger" (Unschuld in Gefahr), mit Ermittlungen. Die Berliner Staatsanwaltschaft hatte ihre Prüfungen selbst eingeleitet. Strafanzeigen habe es nicht gegeben, sagte Steltner.
Die Deutsche Kinderhilfe forderte unterdessen, die Verjährungsfrist für Sexualdelikte an Kindern auf 30 Jahre zu verlängern. "Das Fatale an der Verjährungsfrist zeigt sich hier in seiner ganzen Tragik", sagte der Vorsitzende Georg Ehrmann der Tageszeitung "Die Welt" (Dienstagsausgabe). Die Täter müssten nach jetzigem Kenntnisstand keine strafrechtliche Verfolgung mehr fürchten, die Opfer könnten auch zivilrechtlich keine Ansprüche auf Schadenersatz mehr erheben.