"Wer staatliche Leistungen empfängt, muss eine Gegenleistung in Form von Arbeit erbringen", so hatte Ministerpräsident Roland Koch (CDU) nicht erst 2010, sondern schon bereits im Jahr 2003 sein "Hessisches Modell zur aktivierenden Sozialhilfe und Unterstützung des Niedriglohnsektors" begründet, das der Münchner Ökonom Hans Werner Sinn entwickelt hatte. Zum fünften Geburtstag von Hartz IV hat Koch mit dieser Aufforderung zur Arbeitspflicht nur wiederholt, was er schon zuvor gesagt hatte. Dabei hat er verschärfend klargestellt, dass Erwerbslose auch "niederwertige Arbeit" als Gegenleistung für die staatliche Unterstützung annehmen müssten.
Nichts dazu gelernt - muss man sagen. Die alte Behauptung, dass es sich Menschen in einer Sozialhilfe bequem machen, ist zweifach widerlegt: Jeder vierte Hartz IV-Empfänger ist erwerbstätig und lässt seinen mageren Lohn durch Hartz IV aufstocken. Alle Untersuchungen, aber auch die Erfahrungen von Diakonie und Caritas belegen, dass es eine sehr hohe Bereitschaft vieler Erwerbsloser gibt, einem Ein-Euro-Job nachzugehen. Mangelnde Arbeitsbereitschaft kann deshalb auch nicht der Grund für die Arbeitslosigkeit sein.
Während eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgericht bevorsteht, die notwendige Korrekturen von Fehlentwicklungen der Hartz-IV-Programmatik erwarten lässt, kommt Roland Koch gebetsmühlenartig mit Forderungen daher, die längst von der Wirklichkeit widerlegt sind. Nicht Einsicht, sondern Ideologie sprechen sich hier aus. Wenn die Ideologie der Wirklichkeit ausweicht, dann müssen wieder die Schwachen herhalten.
Er wirft Erwerbslosen Faulenzerei vor
Populistisch wird erneut der Vorwurf der Faulenzerei unter den Hartz-IV-Empfängern erhoben. Alle empirischen Untersuchungen sprechen von einer verschwindenden Minderheit von höchstens zwei Prozent, die arbeitsunwillig sei. Wer die Wahrheit sagen will, die auch vor der Empirie standhält, der muss deshalb zunächst davon sprechen, dass - außer dieser verschwindenden Minderheit von Arbeitsunwilligen - die übergroße Mehrheit der Menschen den Job gegen ihren Willen durch eine unternehmerische Kündigung verloren hat.
Auch wenn die Zahl der Erwerbstätigen gestiegen ist, waren die Beschäftigungszuwächse vornehmlich im prekären Bereich zu verzeichnen: Leiharbeit, Zeitarbeit, befristete Arbeit, Teilzeitarbeit oder nicht sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten. Wenn jetzt im Zuge der Wirtschaftskrise die Zahl der registrierten Arbeitslosen wieder auf über vier Millionen steigen wird, dann zeigt sich: Die Forderung nach Aktivierung ohne die dazu notwendigen Arbeitsplätze ist entweder schizophren oder hochgradig ideologisch.
Die sozialstaatliche Aktivierungsphilosophie sieht den Hauptansatz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bei den Betroffenen. Diese Konzeption war immer schon falsch. Deshalb musste sie scheitern. Der Großversuch Hartz IV ist danebengegangen. Es geht nicht vorrangig um die Notwendigkeit, Erwerbslose zu aktivieren. Das vorrangige Problem ist ein Arbeitsmarkt, der nicht mehr alle braucht, die Erwerbsarbeit für ihren Lebensunterhalt brauchen.
Er ignoriert die Würde der Arbeit
"Sozial ist, was auch niederwertige Arbeit schafft." Wenn Roland Koch dies fordert, dann ignoriert er die Würde der Arbeit. Mehr als drei Viertel der Erwerbslosen, die Arbeit suchen, für die der Arbeitsmarkt aber keine bereithält, verfügen über eine abgeschlossene berufliche Qualifizierung. Deshalb geht es auch nicht nur um eine bloß zahlenmäßige Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage, sondern auch um die Qualität und die Würde der Arbeit. Während im Jahr 1995 nur 110.000 Menschen - die Hälfte von ihnen war in Teilzeit beschäftigt - so wenig verdienten, dass sie ergänzend Sozialhilfe beziehen mussten, waren dies zwölf Jahre später 1,3 Millionen. Innerhalb von knapp zehn Jahren hat sich die Zahl der Vollzeitbeschäftigten, die gleichzeitig Sozialleistungen beziehen müssen, verzehnfacht.
Hartz IV heißt zwar "Grundsicherung für Arbeitssuchende", ist aber für immer mehr (Voll-)Erwerbstätige zu einem Kombilohn geworden. Ein staatlich subventionierter Niedriglohnsektor vermehrt aber Armut, statt auch nur ansatzweise zur Lösung dieses Problems beizutragen. Nach einer 2009 erschienenen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung arbeiten im Jahr 2007 über 6,8 Millionen Beschäftigte zu Stundenlöhnen unter acht Euro, das sind 22 Prozent aller Beschäftigten. Deshalb lautet die Bilanz: Die Aktivierungspolitik hat lediglich erwerbslose Arme in arbeitende Arme umgewandelt – nicht aber die bedrückende Armut abgebaut. Hartz IV ist gescheitert.
Wer soziale Leistungen bezieht, der soll auch dafür arbeiten. Harmlos und scheinbar einleuchtend wird ein Leistungs- und Gegenleistungprinzip formuliert, das aber im Kern soziale und demokratische Rechte aushöhlt. Der bedeutende liberale Sozialwissenschaftler Ralf Dahrendorf nennt die Bindung von Rechten an Leistungen eine mildere Variante der Zwangsarbeit. Das Tauschdenken übersieht, dass es soziale Rechte gibt, denen keine Pflichten entsprechen und die deshalb auch nicht verwirkt werden können. Sie sind ihrem Prinzip nach unbedingt. Die soziale Sicherung ist ein solches unbedingtes Recht, denn es soll die Führung eines Lebens ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht.
Er hat ein falsches Verständnis von sozialer Sicherung
Gleichwohl ist die Gewährung von sozialer Sicherung nicht erwartungs- oder bedingungsfrei, denn erwartet wird, dass Hilfebezieher die Gegenleistung erbringen. Sie besteht darin, aus ihrer Situation herauszufinden, um zu einem selbstständigen Leben kommen, das sie ihrerseits dann in die Lage versetzt, jene Steuermittel zu erbringen, die sie zuvor gebraucht haben und jetzt andere Bürgerinnen und Bürger nötig haben, um ihr Existenzminimum zu sichern.
Wenn das Prinzip Leistung gegen Gegenleistung eingefordert wird, wird ein Tauschverhältnis nachgebildet, wie es auf dem Arbeitsmarkt besteht. Dort nämlich erhält der Arbeitnehmer für seine Arbeitsleistung im Gegenzug einen Lohn als Gegenleistung des Arbeitgebers. Doch die soziale Sicherung verlangt keine solche Gegenleistung, denn sie ist ein letztes Unterstützungssystem, das Ausdruck der verfassungsrechtlichen Verpflichtung eines sozialen und demokratischen Rechtsstaates zur Integration aller Bürger darstellt und deshalb niemanden davon ausschließt, ein Leben führen zu können, das der Würde des Menschen entspricht.
Dies besagt jedoch nicht weniger als ein unbedingtes Recht auf ein menschenwürdiges Leben, das durch keine Gegenleistung erst erworben oder doch verwirkt werden könnte. Das Recht des Menschen auf Leben geht der Pflicht zu einer Beschäftigung voraus, die eine eigenständige Existenz sichert. Würde kommt der menschlichen Person unabhängig davon zu, ob sie in der Lage ist gesellschaftlich nützliche Arbeit zu leisten. Roland Koch Vorstoß, erwerbslose Menschen zu jeder Arbeit und zu jedem Preis zu verpflichten, verletzt eben diese menschenrechtliche und auch verfassungsrechtliche Garantie auf ein würdiges Leben aller Menschen, auch derer ohne Erwerbsmöglichkeit.
Dr. Franz Segbers ist außerplanmäßiger Professor für Sozialethik an der Universität Marburg sowie Referatsleiter für Arbeit, Ethik und Sozialpolitik im Diakonischen Werk Hessen und Nassau.