19.45 Uhr. Noch eine Viertelstunde und es geht los. Die 90 Chöre auf den Rängen feiern jetzt schon eine große Party und bringen hintereinander mehrere La-Ola-Wellen in Fahrt. Die Stimmung ist ausgelassen, fast so, als wäre die Vorstellung schon erfolgreich gelaufen.
Dann, um kurz nach 20 Uhr, flitzt Martin Bartelworth auf die Bühne. Er ist einer der Geschäftsführer der Creativen Kirche aus Witten, die zusammen mit der Evangelischen Kirche von Westfalen für das Riesen-Projekt verantwortlich ist. Mit flotten Sprüchen und einer schier unbändigen Energie stimmt er die 8.000 Besucherinnen und Besucher im Hallenrund auf das Event ein. "Seid gnädig mit uns!" fleht er das Publikum an und erinnert damit freundlich an die Tatsache, dass es sich lediglich um die Vorpremiere und nicht um die Uraufführung handelt.
Und er bringt die Knicklichter ins Spiel, die im weiteren Verlauf des Abends noch für stimmungsvolle Momente sorgen sollen. Sie wurden vor Veranstaltungsbeginn und in der Pause von der Christoffel-Blindenmission verkauft, die durch das Erdbeben in Haiti zwei Menschen verloren hat. Kaum hat Martin Bartelworth das ausgesprochen, ist es mucksmäuschen still in der Halle. Und die "10 Gebote" sind nicht mehr nur ein uralter Text, den Mose nach der Erzählung am Berg Sinai von Gott erhalten hat. Auf einmal sind sie brandaktuell - und gehen unter die Haut.
20:09 Uhr. Jetzt geht es endlich los. Und was dann in den kommenden zwei Stunden auf der Bühne wie auf den Chor-Rängen passiert, ist ein wahres Feuerwerk an musikalischer Kraft und Energie, an schaupielerischer Brillianz sowie verbaler Ausdrucksstärke und Treffsicherheit.
Da sind die beiden Erzähler, Paul Falk und Yosefin Buohler, die musikalisch bewusst ostinat, textlich hingegen äußerst abwechslungsreich durch die Geschichte führen, angefangen von der Sklaverei in Ägypten, mit einem kurzen Präludium, das mit einfachen Worten erklärt, wie menschlich es seit Adam und Eva ist, Fehler zu machen.
Die beiden sind neben den gecasteten Hauptdarstellern die heimlichen Protagonisten des Abends. Denn sie sind nicht nur textsicher und stimmgewaltig. Sie legen auch eine Gestik und Mimik an den Start, die durchaus professionelle Ambitionen aufweist. Sollten die beiden sich in dieser Richtung weiter entwickeln wollen, wird sicher noch viel von ihnen zu hören sein.
Und dann die Musicalprofis Michael Eisenburger als Mose, Bahar Kizil als Zipporah, Frank Logemann als Aaron und Stefan Poslovski als Pharao: sie setzen das gemeinsam in Szene, was die Erzähler anreißen. Dabei versprühen sie eine unglaubliche Spielfreude. Man merkt ihnen an, dass sie hier nicht nur einen Job machen, sondern das Stück verinnerlicht haben.
Zusammen mit ihnen als authetische Botschafter erleben die Zuschauerinnen und Zuschauer, wie Mose den dekadent-überheblich anmutenden Pharao ("Es ist nicht einfach, Gott zu sein") anfleht "Lass mein Volk ziehn!". Es ist hautnah dabei, wenn der Mose eine klare Absage erteilt, wenn Gott die Ägypter mit Plagen straft, so lange, bis der Pharao endlich einwilligt und Israel gehen lässt.
Gebannt verfolgt das Auditorium, wie Mose das Meer mit seinem Stab teilt, wie das Volk durch die Wüste zeiht und Hunger leidet, wie die Israeliten um das Goldene Kalb tanzen und Mose die Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten zerschmettert und schließlich wie er dem Volk nach erfolgter Läuterung die Zehn Gebote ans Herz legt.
Hier zeigt sich besonders deutlich, welche Glanzleistung Michael Kunze vollbracht hat, der für den Text verantwortlich ist: einzeln werden die Gebote in der vertrauten Lutherfassung gelesen und von Aaron in moderner Umschreibung auf den Punkt gebracht. Das geläufige "Du sollst nicht ehebrechen" verwandelt sich so in ein kesses "Fremdgehen ist verboten". Hier wird elementarisiert ohne zu simplifizieren. Und das tut dem Stück ungeheuer gut.
Genau so wie die Masseninszenierung mit den 2.500 Chorsängerinnen und -sängern, die sich am Hofe des Pharao mit Goldfolie bedecken und die Dekadenz des selbst ernannten Gottes dadurch visuell sehr eindrucksvoll unterstreichen. Als Mose das Meer teilt, verhüllen sie sich mit weißem Papier, das geschickt als Projektionsfläche genutzt wird. Und während einer rührigen Ballade entzünden sie ihre Knicklichter und schwenken sie synchron über den Köpfen: Das sind Bilder, die hängen bleiben.
Hängen bleiben wird sicher auch die Musik, die Dieter Falk exklusiv für das Oratorium komponiert hat. Es ist Massenchortaugliche Musicalmusik, irgendwo zwischen Rock und Pop mit orchestraler Untermalung und Melodien, die das Potential haben, sich schnell zu Ohrwürmern zu entwickeln.
Hier hört man die Erfahrung und die Kreativität eines musikalischen Genius, der die Szene seit 30 Jahren mit seinen Kompositionen bereichert und zudem betont christlich in Erscheinung tritt. "Ich bin ein Kind guter kirchlicher Jugendarbeit" sagt er im anschließenden Gespräch mit Journalisten. Man nimmt es dem sympathischen Musikproduzenten ohne weiteres ab.
Bleibt die Creative Kirche aus Witten, der es wieder einmal gelungen ist, ein Mega-Event auf die Beine zu stellen, das Kirche in einem ganz anderen Gewand präsentiert, als die liturgischen Gewänder sonntagsmorgens in den Kirchen vermuten lassen: Hier ist jede MengeEntertainment im Spiel. Und das ist gut so.
Nach gut zwei Stunden und einer Zugabe, die die schönsten Melodien des Abends noch einmal Revue passieren lässt, ist es vorbei. Einmal Applaus für alle: für das "Junge Orchester NRW", das mit Streichern und Band die musikalischen Vorgaben gekonnt umgesetzt hat, für die Hauptdarsteller und natürlich für die Chöre auf den Rängen, ohne deren Beteiligung die "10 Gebote" sicher ein interessantes Pop-Oratorium, aber sicher kein Mega-Event wären.
Sichtlich zufrieden setzen sich die Besucherströme nach dem Schlussakkord in Bewegung. Nur eines, so hört man am Rande, habe etwas gestört: Der Text sei bei den schnellen und lauten Stücken schwer zu verstehen gewesen. "Kein Problem", erklärt Birgit Winterhoff, Vorsitzende des Trägerkreises. "Wir bessern nach und blenden die Texte auf den großen Leinwänden ein." Es ist ja schließlich nur die Generalprobe gewesen.