Es fehlt an allem: Schmerzmittel, Spritzen, Verbandsmaterial, Handschuhe, Schutzmasken. Auch Ärzte werden dringend gesucht. Die Erdbeben-Opfer in Haiti warten verzweifelt darauf, medizinisch versorgt zu werden. "Jeder Chirurg, jeder Arzt ist uns mehr als willkommen", sagt Rachel Fanfantlissade, die an einer privaten Klinik in Port-au-Prince beschäftigt ist. "Wir wissen nicht wohin vor Arbeit, die Menschen flehen um Hilfe." Und die Medizinerin Jennifer Furin betonte gegenüber dem Nachrichtensender CNN: "Innerhalb der nächsten 24 Stunden muss ein Drittel der Patienten dringen operiert werden, sonst sterben sie."
Furin arbeitet in einem provisorischen Krankenhaus nahe dem Flughafen Haitis. Es gibt keinen Strom in der Hauptstadt, Fanfantlissade und ihre Kollegen müssen improvisieren. Angehörige von Opfern halten Kerzen hoch, um den Ärzten bei der Behandlung Licht zu spenden. "Auf so etwas waren wir nicht vorbereitet", sagt die Medizinerin. Seit dem Beben am Dienstag sind die Mitarbeiter der Klinik ununterbrochen im Einsatz. Fanfantlissade trägt eine Schutzmaske, unter ihren Augen sind dunkle Ringe zu erkennen - sie kümmert sich fast rund um die Uhr um einen Patienten nach dem anderen.
Niemand hat Zeit, das Blut wegzuwischen
In dem kleinen Warteraum der Privatklinik drängen sich die Menschen. Eine Frau blutet stark aus dem Bein, auf dem Boden bildet sich eine Blutlache - niemand hat Zeit, den Boden zu reinigen. Noch mehr Haitianer stehen vor der Tür und warten darauf, in die Klinik zu kommen. Manche sitzen in Autos, andere bleiben auf der Straße. Im Krankenhaus Eliazar Germain arbeitet das medizinische Personal ebenfalls ohne Pause. Allein am Dienstag kamen mehr als 500 Patienten, und der Strom der Hilfesuchenden reißt nicht ab. Es gibt zwar einen Operationssaal, doch weil kein Chirurg da ist, wird er nicht genutzt. Die Abteilung für Gynäkologie ist zur Leichenhalle umgewandelt worden, immer mehr Tote werden gebracht.
Auch der Arzt Jooby Bienaime ist überarbeitet und er hat nicht besonders viele Hoffnung, alle Menschen versorgen zu können. "Seit dem Beben arbeiten wir rund um die Uhr." Ein weiteres Opfer wird ins Wartezimmer getragen. "Wir sind total überlastet", stöhnt er. Seine Kollegin Fanfantlissade hofft jetzt auf weitere Unterstützung aus dem Ausland. Am Sonntag konnte endlich ein aufblasbares mobiles Krankenhaus aus Israel der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" aufgebaut werden, nachdem das Frachtflugzeug 15 Stunden auf eine Landegenehmigung warten musste. In verschiedenen Zelten arbeiten jetzt 220 Helfer. "Wir werden in Schichten rund um die Uhr arbeiten", erläuterte Oberst Kreiss Yikshak. 500 Patienten könnten täglich versorgt werden, sofern nicht alle schwerverletzt sind.
Deutsches Rotes Kreuz schickt Miniklinik
Auch ein über den Landweg angereistes Team der Johanniter-Unfallhilfe übergab am Sonntag dringend benötigte Hilfsgüter an ein durch das Beben nur leicht beschädigtes Krankenhaus in Port-au-Prince. Mit den Medikamenten und Verbandsmaterialien könnten mehr als 10.000 Menschen drei Monate lang medizinisch versorgt werden, teilten die Johanniter in Berlin mit. Am Abend wurde in der Krisenregion auch ein Flugzeug mit einer mobilen Miniklinik des DRK und weiteren Hilfsgütern erwartet. "Wir haben die Information, dass die Maschine landen kann", sagte die Sprecherin des Deutschen Roten Kreuzes, Svenja Koch. In sieben großen Zelten können die Helfer dann pro Tag bis zu 250 Patienten versorgen: Wunden behandeln, operieren, impfen - und Kinder zur Welt bringen.
Unterdessen warten vor zerstörten Schulen, Kindergärten, Häusern und Hotels in Port-au-Prince verzweifelte Menschen. Sie vermissen ihren Bruder, ihre Schwester, Eltern, Onkel und Tanten, Freunde. Doch die Chancen, die Vermissten Tage nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti noch lebend zu finden, schwinden. Dennoch setzen die Menschen ihre Hoffnung auf die internationale Rettungskräfte, damit sie wenigstens die Leichen beerdigen können. In Haiti geht es nun um den Kampf derjenigen, die das verheerende Erdbeben überstanden haben.
Die Lage in Port-au-Prince könnte sich verschärfen: In der zerstörten Hauptstadt leben mehr als eine Million Menschen. Allerdings unter äußerst schwierigen Bedingungen. Die meisten campieren unter freiem Himmel auf der Straße, auf Grünflächen und in Parks. Hunderttausende Haitianer trauen sich nicht mehr, in die meistens stark beschädigten Häuser zurückzukehren, aus Furcht vor neuen Erdstößen. Noch immer sind kleinere Nachbeben zu spüren. Die Menschen sind traumatisiert.
"Wir haben Hunger und warten schon so lange"
"Warum kommt Ihr her mit Euren Kameras, und nicht mit Essen?", klagt der junge Familienvater Sammy. "Wir haben Hunger und warten schon so lange." Er steht mit einem weißen Tuch vor dem Mund auf dem Dach eines Hauses und betrachtet einen Hang auf der gegenüber liegenden Seite eines Tals. Er sieht völlige Zerstörung. Keines der Betonhäuschen ist erhalten. Viele Hütten sind den Hang herabgerutscht und liegen zertrümmert auf dem Grund des Tals. "Was tut Ihr denn, um Lebensmittel hierher zu schaffen?", fragt Sammy verzweifelt."«Ich gebe auf, ich will raus aus dem Land."
Auf den Straßen sind unzählige Menschen unterwegs. Oft tragen sie einen Mundschutz. Viele haben sich unter der Nase mit Zahnpasta eingecremt, um den Leichengeruch und den Gestank verderbenden Mülls zu überdecken. Sie scheinen aus dem Schock aufzuwachen, in den sie das Erdbeben am Dienstag versetzt hat. Viele stehen nach Wasser und Lebensmitteln an. An einigen Stellen gibt es wieder Obst und Gemüse, Papayas, Bananen, süße Kartoffeln und Ananas zu kaufen. Offenbar sind erste Lieferungen aus der Dominikanischen Republik eingetroffen, dem Nachbarland Haitis auf der Insel Hispaniola. Frauen tragen Wassereimer und Säcke auf den Köpfen, Männer transportieren auch Fernseher und andere Gegenstände, die sie wohl unter den Trümmern hervorgezogen haben.
Für Michael Kühn, Repräsentant der Deutschen Welthungerhilfe in Haiti, ist die Katastrophe von Port-au-Prince ein logistischer Alptraum. "Es gibt nichts, worauf wir bauen können", beschreibt er die Lage. Soeben wurde bestätigt, dass die Führung der UN-Mission MINUSTAH in Haiti ums Leben gekommen ist. Die aus etwa 10.000 Soldaten, Polizisten und zivilen Mitarbeitern bestehende Mission versucht seit 2004, das wirtschaftlich und politisch zerrüttete Land nach Jahrzehnten der Ausbeutung und der Diktatur zu stabilisieren.
Tausende wohnen in Parks
Auch die ohnehin schwache Regierung Haitis ist kaum handlungsfähig. Denn auch Minister und viele Beamte starben. "Wir werden ab Anfang der kommenden Woche Wasser, Decken und Dinge verteilen, die die Menschen jetzt vordringlich benötigen", sagte Kühn. Gemeinsam mit lokalen Partnern und an sicheren Orten wie Kirchen und Sportplätzen. "Im schlechtesten Fall kann es zu Gewalt kommen." Unter anderem deshalb habe es bis zum Samstag noch keine Verteilaktionen gegeben. Einige Menschen verfügen noch über Vorräte. Die großen Parks sind die Bleibe für Tausende. Überall wird über Holzfeuern gekocht und gebraten. Spaghetti in einer Fettsoße, Gemüse bei Sandy und ihrer Familie. Die junge Frau von Mitte 20 hat gegenüber dem schwer beschädigten Präsidentenpalast Unterschlupf gefunden.
Die Rettungsmannschaften aus vielen Ländern suchen in den Trümmern weiter nach Überlebenden. Doch die Hoffnungen sinken. In den Ruinen der Sprachwissenschaftlichen Fakultät der Universität von Haiti entdeckten die Männer des Luxemburger Zivilschutzes am Samstag mit ihren Hunden 25 Tote. "Wir schicken jetzt noch mal die Hunde über den Trümmerhaufen", sagt der Chef der Truppe, Kevin Thex. "Dann fahren wir zum nächsten Einsatz".