"Von wenigen Zeitungen abgesehen, konzentriert sich unsere Auslandsberichterstattung auf die Länder, die für Deutschland politisch oder ökonomisch wichtig sind. Von Ländern der Dritten Welt sehen wir zumeist lediglich die Elends- und die Katastrophenbilder. Die Folge ist, diese Länder sieht der Fernsehzuschauer ausschließlich mit dem Spenderblick, mit dem Gestus des Reichen, der einen Brosamen für den Armen vom Tisch fallen lässt. Menschen dürfen nicht zu Hilfeempfängern und Bettlern reduziert werden." – Manfred Kock in einem Vortrag am 9. Mai 2000 zur "aktuellen Lage der Medien".
Astrid Nissen hat viel zu tun. Die Leiterin der Diakonie in Haiti muss helfen. Vermutlich bis zu 100.000 Menschen sind bei dem Erdbeben in dem Karibikstaat ums Leben gekommen. Die wenigen Krankenhäuser der Hauptstadt Port-au-Prince sind zum Teil eingestürzt, Straßen sind kaum passierbar. Helfen ist auf Haiti eine sehr schwere Aufgabe.
Aber nicht nur die Menschen von Haiti brauchen Astrid Nissen, sondern auch die Medien. Sie ist eine gefragte Ansprechpartnerin. Presse, Radio und Fernsehen: alle wollen mit Astrid Nissen reden. Nachrichtenagenturen melden, was Nissen sagt, der ARD Brennpunkt sendet ein Interview mit ihr und die Seite 3 der "Süddeutschen Zeitung" am Donnerstag bedient sich den Berichten Astrid Nissens, um den Lesern zu beschreiben, wie die Lage so ist auf Haiti.
Die Medien sind auf Menschen wie Astrid Nissen angewiesen. Die Zahl der Auslandskorrespondenten ist in den vergangenen Jahren eher zurückgegangen. Es muss gespart werden, auch an der Kompetenz in der Berichterstattung über exotische Länder. Das liegt natürlich auch am Publikum. Flapsig ausgedrückt: Wen interessiert schon Haiti, wenn dort nicht die Erde bebt? Und wenn Medien keine eigenen Reporter vor Ort haben, keine Journalisten, die sich auskennen, dann müssen sie auf Menschen wie Astrid Nissen zurückgreifen, um das zu tun, was Medien tun müssen: informieren. Wer in diesen Tagen versucht, die Pressestelle einer Hilfsorganisation zu erreichen, hört deshalb vor allem eines: das Besetztzeichen.
Spezielle Symbiose
Hilfsorganisationen und Medien leben in einer speziellen Symbiose. Gäbe es nicht die Berichte der Helfer vor Ort, so wären die Informationen aus Haiti noch dünner als ohnehin schon. "Es gibt momentan einfach keine anderen Quellen als die Hilfsorganisationen", sagt Hendrik Zörner, Pressesprecher des deutschen Journalistenverbandes (DJV). "Und es gelingt den Medien bislang wegen der schlechten Infrastruktur des Landes auch kaum, Journalisten nach Haiti zu bringen."
Umgekehrt ist eine Katastrophe für die Menschen weitab in Deutschland aber erst dann Wirklichkeit, wenn auch über sie berichtet wird. Und erst, wenn eine Katastrophe in der Wirklichkeit der Menschen hierzulande angekommen ist, gibt es auch eine Bereitschaft, zu spenden. Ohne Spenden können Menschen wie Astrid Nissen ihre Hilfsarbeit nicht leisten. "Die meisten Hilfsorganisationen haben ein großes Interesse an breiter Berichterstattung. Oft folgt die internationale Hilfe erst der Medienberichterstattung. Das wissen auch die Hilfsorganisationen", sagt Kai Gniffke, Chefredakteur von ARD Aktuell.
Hilfsarbeit ist also Medienarbeit, aber der Grat ist schmal. Über den "embedded journalisms" im Golfkrieg wurde viel Kritisches geschrieben. Dass Journalisten quasi als Teil der Armee von der Front berichteten und sich einer freiwilligen Zensur unterwarfen, passte nichts ins Bild des unabhängigen Journalismus. Wer als Journalist in ein Katastrophengebiet will, kommt dort aber oft auch nur als "Anhängsel" einer Hilfsorganisation hin. Diese wird eine Berichterstattung nicht zensieren, aber wer Teil einer Organisation ist, hat vielleicht doch einen anderen Blick auf Ereignisse. Schwerer wiegt aber die Frage, ob die Medienarbeit der Helfer nicht die Zeit frisst, die für die Bedürftigen aufgebracht werden sollte. "Die Helfer müssen selbst entscheiden, wie viel Zeit sie für Medien aufbringen", sagt dazu Hendrik Zörner.
Und noch eine andere Frage wiegt schwer: die nach den Opfern. Wie fühlt sich jemand, der blutüberströmt auf der Straße liegt, und dabei fotografiert wird? Und wie fühlt es sich vielleicht an, so ein Bild später gedruckt in einer Zeitung sehen zu müssen? In Katastrophenzeiten läuft die journalistische Ethik Gefahr, Opfer des Rennens um Quoten und Aufmerksamkeit zu werden. Nicht alle Bilder, die die Wahrheit zeigen, eigenen sich, gezeigt zu werden.
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Keine Bilder
Wahr ist, was wir sehen. Für das Fernsehen ergibt sich bei Haiti das Problem, dass es kaum Bilder gibt. Und so setzte sich die Berichterstattung zunächst aus den wenigen verwackelten Amateurvideos zusammen, die über das Internet in alle Welt gelangten und eben aus Gesprächen mit mal mehr mal weniger gut informierten Experten, die eine Einschätzung der Lage lieferten. Wenn es um Haiti ging, war das Fernsehen lange eigentlich nur Radio mit etwas Zuschuss. Wir schauten zwar zu, aber eigentlich sahen wir nichts.
Vielleicht liegt es auch an den fehlenden Bildern, dass das deutsche Fernsehen recht spät mit der Berichterstattung über das Beben begann. Während der amerikanische Sender CNN früh auf Sendung war, flimmerte über deutsche Bildschirme noch das übliche Nachtprogramm. Selbst auf den sogenannten Nachrichtensendern n-tv und N24 war zumindest gegen Mitternacht von einer Erdbebenberichterstattung nichts zu sehen. Ob Nachrichtensender, die – übertrieben formuliert - keine Nachrichten senden, eine Existenzberechtigung haben, muss jeder Zuschauer für sich entscheiden. Die "Tagesschau" immerhin berichtete ab 2 Uhr über das Erdbeben, einen ersten bebilderten Bericht gabe es in der Nacht um 5 Uhr. "Wirstützen uns auf die Bilder, die wir von den etablierten Agenturen wie Reuters oder AP bekommen, sofern noch keine eigenen ARD-Korrespondenten mit Kamerateams vor Ort sind", sagte Kai Gniffke.
Aktuell schlägt erneut auch die Stunde der vielgescholtenen Bürgerjournalisten. Jede Twittermeldung, die aus Haiti kommt, wird ausgewertet. Menschen, die in Haiti vor ihrem Computer sitzen und per Webcam berichten, was sie erlebt haben, werden per Fernsehen millionenfach in Haushalte in aller Welt weiterverbreitet. In normalen Zeiten würden derlei Videos bestenfalls bei Youtube ein Publikum finden – ein kleines vermutlich. Der Informationsgehalt ist in der Regel ohnehin dürftig. Eingestürzte Gebäude, vermisste Verwandte, kein Strom und Wasser – mehr gibt es momentan eigentlich nicht zu sagen. Und nicht zu zeigen. Und vielleicht wird sich in den kommenden Tagen auch herausstellen, dass der ein oder andere Bericht, der angeblich aus Haiti stammte, von irgendeinem Aktionskünstler inszeniert worden ist, um zu beweisen, wie schlecht Medien recherchieren und wie leicht sie auf Fälschungen reinfallen. Aber wenn es um Katastrophen geht, müssen eben nicht nur die Helfer, sondern auch die Medien improvisieren. Nicht alles ist da perfekt, dies den Medien vorzuwerfen ist wohlfeil.
Analysen und Hintergründe
Man darf aber gespannt sein, ob die Medien nachliefern, was sie jetzt nicht leisten können: Analysen und Hintergründe. Man darf auch gespannt sein, ob das Publikum sich für solche Berichte dann noch interessiert, oder ob doch vielleicht die Berichte von Toten und Verletzen, die Amateuraufnahmen von Staubwolken und eingestürzten Gebäuden, mehr Interesse erregen.
In wenigen Wochen werden die Medien Haiti wieder hinter sich lassen. Menschen wie Astrid Nissen werden bleiben. Sie werden Krankenhäuser wieder aufbauen, Wohnungen, Straßen und Brunnen. Sie werden vielleicht mehr Geld für ihre Projekte haben, weil die Menschen in aller Welt viel Geld gespendet haben. Und sie werden mehr Zeit haben, sich auf ihre eigentliche Arbeit zu konzentrieren, weil die Anfragen der Medien weniger werden. Im September 2009 gab es ein Erdbeben in Indonesien, nun eines auf Haiti. Es wird ein weiteres Beben geben, irgendwann irgendwo auf der Welt. Die Medien werden den Blick dorthin richten.
Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut die Ressorts Medien und Kultur.