(...) Die Entsendung der Truppen, die auch mit militärischen Mitteln versuchen, in diesem Land Frieden zu schaffen und den Aufbau eines demokratischen Staatswesens zu ermöglichen, war als ultima ratio notwendig. Ich bin voll Anerkennung für die Ehrlichkeit Barack Obamas, der ausgerechnet aus Anlass der Verleihung des Friedensnobelpreises zugegeben hat, dass er von einem prinzipiell gewollten Abzug der US-amerikanischen Truppen keine andere Lösung sieht, als noch mehr Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Er spiegelt damit die Zerrissenheit vieler Politiker wider. Das ist das eine.
Das andere: Genauso nachdrücklich wie in die Einsicht in die Notwendigkeit des Einsatzes von Soldaten unter UN-Mandat bleibe ich bei der Forderung, gleichzeitig noch mehr Geld und Personal in die Entwicklungshilfe und den zivilen Aufbau des Landes zu geben, um Bildung, Entwicklung und den Aufbau eines funktionierenden Staatswesens zu fördern. Als Evangelische Kirche in Deutschland haben wir immer einen "Vorrang für Zivil" gefordert und sehen militärische Gewalt lediglich als dem zivilen Aufbau dienend. Also nicht nur 30.000 weitere Soldaten, sondern mindestens auch 30.000 weitere Entwicklungshelfer, Lehrkräfte oder Verwalter. Wir haben die Sorge, dass dieser "Vorrang für Zivil" aus dem Blick gerät.
Geradezu waghalsig
Aber wie es scheint, ist es geradezu waghalsig, sich als Bischöfin zu diesem Thema zu äußern, vor allem weil viele, die reagieren, meine Neujahrspredigt in Dresden und Berlin offenbar gar nicht gelesen habe. Sie hatte die Jahreslosung für 2010 zur Grundlage, die ich traditionell auch heute aufgreife: "Euer Herz erschrecke nicht. Glaubt an Gott und glaubt an mich". Ich finde, das ist ein wunderbares Wort Jesu aus dem Johannesevangelium, das uns für ein Jahr Wegweisung sein kann. Die Einladung im Vertrauen auf den Glauben an Gott den Vater und den Sohn und in der Gewissheit, dass Gottes Geist weht, wann und wo er will, kann uns Menschen die Zuversicht und den Mut geben, Entscheidungen zu treffen und Ansichten zu vertreten, die unter Umständen nicht die Zustimmung aller bekommen.
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Es wäre die biblische Botschaft zutiefst missverstanden, dass eine einmal getroffene Entscheidung für immer unverbrüchlich stehen bleiben muss – das gilt auch für politische Entscheidungen und das mögen sich auch Politikerinnen und Politiker als Ermutigung sagen lassen. Das heißt nicht wankelmütig zu sein, das Fähnlein nach dem Wind zu hängen, sondern bei jeder Entscheidung immer und immer wieder die Glaubensverantwortung und das Leben der Menschen im Blick zu haben. Nicht anders ist die Jahreslosung zu verstehen: "Euer Herz erschrecke nicht. Glaubt an Gott und glaubt an mich". Es ist das grundsätzliche "Ja" zu allem Leben, auch und gerade in den Krisen unserer Welt.
Und deshalb wiederhole ich noch einmal, was in den letzten Tagen für so viel mediale Aufregung gesorgt hat. Wer – beim besten Willen – möchte dem Satz widersprechen, dass in Afghanistan nichts gut ist. Ich habe diesen Satz gegen den banalen Neujahrswunsch: "Alles wird gut!" gestellt.
Gerade keine Kritik an deutschen Soldaten
Ja, viele waren überzeugt, dass die durch UN und Bundestag eingeschlagenen Strategien helfen, in diese Region Frieden zu bringen. Nun wissen wir trotz aller Strategien: die ultima ratio des militärischen Einsatzes darf nicht zum Normalfall werden, auch um der Soldaten und Soldatinnen selbst willen, die dort ihr Leben und ihre Zukunft riskieren.
Wer liest bzw. hört, was ich gesagt habe, wird dort gerade keine Kritik an deutschen Soldaten finden, sondern die Aufforderung, zu realisieren, dass sie sich in einer kriegerischen Auseinandersetzung befinden. Wir haben uns als Gesellschaft allzu lange damit beruhigt, dass deutsche Soldatinnen und Soldaten Brunnen bohren und Häuser bauen. Und ein Oberst Klein fühlt sich dann allein gelassen, weil er militärische Entscheidungen getroffen hat. Unsere Seelsorger begleiten die Soldaten in Afghanistan. Im Gespräch mit ihnen haben sie mir letztes Jahr deutlich gemacht, welche enorme auch psychische Belastung dieser Einsatz für viele bedeutet.
Ein junger Mann kam in meine Kanzlei, der einen Anschlag überlebt hat, bei dem zwei seiner Kameraden verbrannten. Er fühlt sich völlig ausgegrenzt, weil niemand seine Geschichte wirklich hören will. Eine junge Frau schrieb mir, es sei ja schön und gut, dass ich eine Andacht für die Trauernden um Robert Enke gehalten habe, aber als ihr Mann in einem Zinksarg aus Afghanistan zurück kam, war sie allein….
Es ist doch auch die Sorge um unsere Soldatinnen und Soldaten, die mich fragen lässt, ob wir nicht eine klare Exit-Strategie brauchen. Viele Mails von Soldaten und ihren Angehörigen bestätigen mich übrigens in dieser Auffassung. Wer das nicht versteht, will mich gezielt missverstehen. Ich denke, eine Mahnung zum Frieden gehört genuin zum bischöflichen Amt. Wer wollte denn von einer Bischöfin anderes erwarten. Wer das parteipolitisch verwerten will, hat das Evangelium nicht gelesen.
"Ich bleibe dabei: Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden"
Die Zusage Jesu in der Jahreslosung 2010 gibt mir die Hoffnung und die Zuversicht, die biblische Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit zu thematisieren. Auch wenn es in den Ohren derer, die allein der Gewalt als Antwort auf Gewalt vertrauen, naiv klingen mag – ich bleibe dabei: Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen. Das kann manchmal mehr bewirken als alles abgeklärte Einstimmen in den vermeintlich so pragmatischen Ruf zu den Waffen.
Das sage ich übrigens in aller Hochachtung vor den Politikerinnen und Politikern, die in ihrer Verantwortung Entscheidungen auch über die Präsenz der Bundeswehr in Afghanistan treffen müssen. Es ist gut und richtig, dass in der Demokratie Menschen auf Zeit politische Verantwortung zuerkannt bekommen, und ich vertraue darauf, dass niemand, der eine solche Verantwortung übernommen hat, damit fahrlässig umgeht. Aber die politisch Verantwortlichen werden auch akzeptieren, dass Fragen gestellt und Sorgen benannt werden. Das ist Demokratie!
Jesus hat ins seinen Seligpreisungen die Friedfertigen glücklich gepriesen. Das gilt auch in Afghanistan: Glück und erfülltes Leben können nur dort gefunden werden, wo die Menschen in Frieden leben können. Und der Aufbau von Frieden hat viele Facetten.
Seelsorgerliche Unterstützung für alle Betroffenen
Sie alle, die Politikerinnen und Politiker, die Soldatinnen und Soldaten sowie ihre Angehörigen können sich auf die Fürbitte der evangelischen Kirche verlassen und werden über die Militärgeistlichen und die Gemeindepfarrerinnnen und Gemeindepfarrer vor Ort all die seelsorgliche Unterstützung bekommen, um die sie anfragen. Wir werden nicht diejenigen im Stich lassen, die politisch getroffene Entscheidung umsetzen müssen.
Die Anfragen der letzten Tage befremden mich, das muss ich sagen, weil sie eine klare politische Kultur in Frage stellen, in der es möglich ist, in Freiheit Fragen zu stellen, auch als Frau der Kirche. Gleichzeitig habe ich eine solche Welle der Unterstützung erfahren, dass ich denke: Es war offenbar notwenig, dass unsere Gesellschaft diese Debatte führt.
"Euer Herz erschrecke nicht. Glaubt an Gott und glaubt an mich." Die Losung hat mich wirklich ermutigt in diesen Tagen und zwar auf eine Weise, die ich so gar nicht vorausgesehen habe.
Verlassen wir uns in unseren Entscheidungen – und wahrhaftig nicht nur in dieser Frage – auf die Lebenszusage unseres Glaubens, der Krisen und Leid eben nicht ausblendet, sondern als Teil der Wirklichkeit annimmt. Unser Herz muss nicht erschrecken, weil wir uns auch in schweren Zeiten getragen wissen dürfen von Gott, der das Leben kennt, weil er selbst Mensch wurde.
Manuskript der vollständigen Rede Käßmanns (pdf-Datei)