Der kommentierte Aphorismus (XIII)

Der kommentierte Aphorismus (XIII)
In seiner Kolumne kommentiert Hasso Mansfeld Aphorismen. In dieser Folge hat er sich ein Wort des deutschen Dichters Rainer Maria Rilke vorgenommen. Thema: Täter und Opfer.
28.12.2009
Von Hasso Mansfeld

"Der Gebogene wird selber zum Bieger und rächt sich an anderen, dass er selber unterlag ." - Rainer Maria Rilke, Deutscher Schriftsteller und Dichter, geboren am 04 . Dezember 1875 in Prag und gestorben am 29. Dezember 1926 nahe Montreux.

In diesen kurzen Zeilen beschreibt der deutsche Lyriker Rainer Maria Rilke die Psychodynamik der Entwicklung vom Opfer zum Täter. Dabei steht am Anfang immer am eigenen Leibe und an der eigenen Seele erfahrenes Unrecht. Es ist zunächst die Opferrolle, in die ein Mensch von anderen gestoßen wird.

Um sich aus dem Opferdasein zu befreien, gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine, leichtere, daher weitaus häufigere, beschreibt der Dichter in diesem Aphorismus: man schlüpft selber die Rolle des Täters. Die Motivation selber zum "Bieger" zu werden, ist immer auch die Frustration über die Tatsache, dass man es nicht geschafft hat, sich auf anderem Wege vom Opferdasein zu befreien. Man rächt sich an anderen und trifft dabei immer Außenstehende, die mit dem eigentlichen Vorgang nichts zu tun haben. Das eigene Schicksal, die eigene Vergangenheit, wird dabei verdrängt.

Der zweite Weg, die Opferrolle abzustreifen, ist der weitaus schwierigere. Die Alternative zur Rache an anderen bedeutet sich mit der Erinnerung an die Vergangenheit, seinem Schicksal, erneut zu befassen. Es bedeutet zu reflektieren und den Grund herauszufinden, warum die damaligen Täter, die Biegenden, sich so verhielten und aus welcher Motivation heraus sie das Unrecht begingen. Da dieser Weg heißt, sich erneut mit dem erlittenen Schmerz und denjenigen zu befassen, wird dieses Vorgehen meist gemieden. Zudem erschwert die Tatsache, dass es häufig Menschen aus der nächsten Umgebung sind, welche die Täter waren, die Aufarbeitung des eigenen Leides. Will man jedoch die Kette, welche zu immer wieder neuem Unrecht an Unschuldigen und Unbeteiligten führt, unterbrechen, gibt es zu dem zweiten, dem steinigen Weg, keine Alternative.
 


Über den Autor:

Hasso Mansfeld arbeitet als selbstständiger Kommunikations-Berater. Die Beschäftigung mit philosophischen Fragen ist fester Bestandteil seiner Beratungstätigkeit. Für seine Ideen und Kampagnen wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet.