Frage: In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?
Paul Maar: Wenn ich allein am Schreibtisch sitze. Wenn ich kaum nachkomme mit dem Schreiben, weil mir die Ideen vorauseilen und ich ganz schnell schreiben muss, sonst sind die Ideen weg. Das ist fast ein meditativer Zustand. Beschreibe ich bestimmte Kindheitssituationen meiner Protagonisten, bin ich plötzlich das Kind, das ich damals war, und empfinde das genau mit. Freut sich mein kleiner Protagonist, bin ich auch glücklich. Und wenn er von einem unachtsamen Erwachsenen gekränkt wird, erinnere ich mich an eigene Kindheitserlebnisse. Mein Vater war sehr streng und oft ungerecht, er konnte wenig mit mir anfangen. Ich hatte einen leicht gebeugten Rücken, trug eine Brille und las dauernd – er wünschte sich einen Sportlerjungen.
Frage: Was können Erwachsene von Kindern lernen?
Maar: Unbefangenheit. Wenn ein Dreijähriger jemanden nett findet, dann umarmt er den und sagt: „Du kommst morgen wieder!“ Oft genug sagen die Eltern dann stirnrunzelnd: „Du kannst einen fremden Mann nicht einfach anfassen.“ So lernt das Kind: Bestimmte Dinge darf ich nicht tun. An diesen kleinen Kindern können wir lernen, wie unbefangen wir wären, wenn man uns als Kind nicht sozialisiert hätte und uns das Spontane, das Körperliche gewissermaßen ausgetrieben hätte.
Frage: An welchen Gott glauben Sie?
Maar: Ich habe das Gefühl, dass ich manchmal von einem höheren Wesen – sei es ein Engel oder ein anderes Wesen – vor Gefahren bewahrt worden bin. Während der letzten Kriegstage wollte ich beispielsweise ins Dorf gehen. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, ich sollte nicht dorthin gehen. Dann ist im Pfarrgarten eine Sprengbombe gelandet, und ich hätte genau dort sein können. Es gibt wohl nicht nur unsere reale Welt, es muss noch eine andere Ebene geben.
Frage: Hat das Leben einen Sinn?
Maar: Ich möchte, dass ich durch das, was ich tue und getan habe, im Gedächtnis meiner Kinder und meiner Enkelkinder weiterlebe. Ich möchte, dass ich ihnen nicht als unangenehmer oder schlechter Mensch im Gedächtnis bleibe, sondern dass sie sich gern an mich erinnern. Das fängt damit an, dass ich versuche, anderen Menschen tolerant und offen zu begegnen. Ich übernehme Verantwortung für andere, ich kümmere mich um meine Mutter, sie ist inzwischen 93, ich besuche sie wenigstens einmal pro Woche. Ich versuche, nicht geizig zu sein. Ich habe immer das Gefühl, unverdient zu viel zu bekommen, also helfe ich hier und da. Ich fühle mich verpflichtet, etwas von dem, was ich bekommen habe und bekomme, abzugeben.
Frage: Welche Liebe macht Sie glücklich?
Maar: Ich war als Kind durch den sehr frühen Tod meiner Mutter und den sehr autoritären Vater fast autistisch, habe nichts an mich herangelassen. Während mein Vater dann im Krieg war, habe ich mit meiner zweiten Mutter fünf Jahre bei meinem Großvater gelebt. Das war meine glücklichste Zeit überhaupt. Er war ein ganz runder Mensch, ungeheuer gemütlich und liebevoll. Er hat mich so akzeptiert, wie ich war, er hat mich langsam aufgetaut. Ich könnte fast sagen, dass er mich aus meinem Gefängnis befreit hat. Später dann hat mir meine Frau sehr geholfen. Wir haben sehr früh geheiratet, wir waren beide 21 Jahre alt. Da trennt man sich spätestens nach sieben Jahren, oder man entwickelt sich zusammen. Wir sind jetzt 50 Jahre verheiratet. Das ging durch Höhen und Tiefen, wobei die Höhen überwogen. Man muss an einer Beziehung arbeiten, muss etwas tun. Man muss sich immer wieder auseinandersetzen und gemeinsam überlegen: Was läuft im Moment nicht richtig, woran liegt es, was können wir ändern?
Frage: Muss man den Tod fürchten?
Maar: Vor zwei Jahren hatte ich eine schwierige Herzoperation, ich habe eine neue Herzklappe und zwei Bypässe bekommen. Als ich dann aus der Narkose erwachte und merkte: Ich lebe noch, habe ich mich sehr, sehr lebendig gefühlt. Insofern fürchte ich weniger den Tod, eher das Sterben. Manchmal bin ich sogar richtig gespannt, was danach passiert. Wer hat wohl recht: Die Kirche mit ihrer Vorstellung des Paradieses? Oder die Inder mit der Wiedergeburt? Oder kommt gar nichts?
Paul Maar, geboren am 13. Dezember 1937 in Schweinfurt, zählt zu den erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautoren. Bekannt wurde er 1968 mit seinem ersten Buch „Der tätowierte Hund“. Maar schreibt Romane, Theaterstücke, Drehbücher und Gedichte, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden; er illustriert seine Bücher zum Teil selbst. Zum Klassiker avancierte sein frech-fröhliches „Sams“. Im vergangenen Jahr kam „Onkel Alwin und das Sams“ in den Buchhandel und die Verfilmung von „Lippels Traum“ in die Kinos. Paul Maar erhielt mehr als 20 Preise und Ehrungen, darunter den „Deutschen Bücherpreis“ (2003). Er lebt in Bamberg, ist mit der Familientherapeutin Nele Maar verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.
Das Interview erscheint in der Ausgabe 1/2010 des christlichen Monatsmagazins "chrismon".