"Amoklauf in den USA sollte für uns ein Warnsignal sein"

"Amoklauf in den USA sollte für uns ein Warnsignal sein"
Diejenigen, die Soldaten beim Verarbeiten ihrer Kampferfahrungen helfen sollen, haben selbst daran zu knabbern. Was das konkret heißt, erklärt aus eigener Erfahrung Militärpfarrer Uwe Becker, der schon zwei Einsätze in Afghanistan hinter sich hat und zudem über langjährige Erfahrung als Notfall- und Polizeiseelsorger verfügt. Becker schließt nicht aus, dass auch in Deutschland traumatische Erfahrungen von Soldaten irgendwann zu Gewaltausbrüchen führen. Er fordert ganzheitliche Ansätze zur Verarbeitung der Kriegserfahrungen.
06.11.2009
Die Fragen stellte Ulrich Pontes

Evangelisch.de: Was war ihr erster Gedanke, als Sie von dem Amoklauf in den USA gehört haben?

Uwe Becker: Ich war sehr bestürzt. Es ist ja schon etwas sehr besonderes, wenn Menschen, die andere in schwierigen Situationen begleiten sollen, selbst eine Krisensituation auslösen. Das erzeugt schon eine besondere Betroffenheit - und die Frage, wie kann so etwas passieren.

"Man übernimmt Verantwortung über das Theologische hinaus"


Evangelisch.de:
Können Sie als Seelsorger da an die Betroffenheit eines Psychiaters anknüpfen, der sich um traumatisierte Soldaten kümmern musste?

Becker: Wir sind ja alle im Gesprächsbereich tätig - da fühlt man sich schon verbunden. In Faisabad, wo ich in Afghanistan zur Betreuung war, gab es beispielsweise keinen Psychologen vor Ort - da übernimmt man dann als Pfarrer auch Verantwortung über das Theologische hinaus.

Evangelisch.de: Wie stark belastet einen das dann selbst?

Becker: Ich denke, dass es da große persönliche Unterschiede gibt. Viel diskutiert wird ja zurzeit der Begriff der "Resilienz" - das steht für die Widerstandskraft eines Menschen gegenüber schlimmen Ereignissen und Schwierigkeiten. Man hat festgestellt, dass die Resilienz unterschiedlich ist: Der eine hat mehr, der andere weniger Spannkraft oder Widerstandskraft angesichts solcher Erfahrungen. Das gilt natürlich auch für uns Pfarrer. Wenn ich im Lager bin und mich um die Leute kümmern muss, die gerade einen Anschlag hinter sich haben und den in den entsprechenden Farben schildern, bin ich ja zumindest mittelbar betroffen. Sicher haben wir durch unsere Ausbildung eine gewisse Übung darin, in solche Situationen mit hineingenommen zu werden - aber trotzdem würde ich nie wagen, zu behaupten, dass wir völlig resistent sind und dass ein Gewaltausbruch als Reaktion auf die Belastungen völlig ausgeschlossen ist.

Hilfe für Helfer: "Da stecken wir noch in den Kinderschuhen"


Evangelisch.de:
Wie ist es für diejenigen, die Soldaten als Therapeuten oder Seelsorger helfen - wer hilft ihnen?

Becker: Ja, das ist fast die häufigste Frage, die mir gestellt wird, wenn Gespräche persönlich werden und jemand auch mal nach mir fragt. Auf jeden Fall ist hier ein Prozess des Nachdenkens in Gang: Als ich vor 15 Jahren mit Notfallseelsorge angefangen habe, da ging es allgemein erst mal darum, Leute zu haben, die sich in Notsituationen um andere kümmern. Über die Jahre ist dann stärker in den Blick geraten, wie man die Helfer betreuen und begleiten kann. Da stecken wir meines Erachtens aber noch in den Kinderschuhen. Zwar wird für uns Supervision angeboten, aber ich denke, man müsste einen ganzheitlicheren Ansatz entwickeln. Gespräche sind nur ein Faktor.

Evangelisch.de: Diese Supervision - wie muss man sich das vorstellen?

Becker: Man kommt wie die Soldaten nach viereinhalb Monate beispielsweise aus Afghanistan zurück. Dann gibt es für uns ein Auswertungsseminar mit einem Mitarbeiter des Evangelischen Kirchenamts für Militärseelsorge. Und es ist einem selbst anheimgestellt, sich darüber hinaus einen Gesprächspartner zu suchen, um das Erlebte aufzuarbeiten.

Evangelisch.de: Und Ihnen schwebt noch mehr vor?

Becker: Ich finde, man muss über ein ganzheitliches Angebot mit Sport, Entspannung, Erholung nachdenken - zusätzlich zu den Gesprächen.

"Wir rechnen immer mehr damit, dass es uns erwischen kann"


Evangelisch.de:
Bei Soldaten hört man immer häufiger von der "Posttraumatischen Belastungsstörung" - einer ernsthaften seelischen Erkrankung nach dem Einsatz. Gibt es auch bei Pfarrern schon Fälle?

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Becker: Auch bei uns hat jetzt ein neues Nachdenken eingesetzt. Wenn Sie allein die Situation in Kundus nehmen, wo immer ein Pfarrer vor Ort ist: Dort gibt es immer wieder Raketeneinschläge im Lager und in der Nähe. Der Pfarrer ist also hautnah dabei, schon im Lager. Und dann gibt es Situationen, wo er mit der Truppe raus muss. Dabei kann dann auch der Pfarrer in Gefechtssituationen verwickelt sein und traumatische Ereignisse mit den Soldaten zusammen erleben. Und er weiß, dass er sein Leben riskiert. Deshalb rechnen wir jetzt auch immer mehr damit, dass es auch uns als Pfarrer unter Umständen, lapidar gesagt, erwischen kann.

Evangelisch.de: Hat man als Pfarrer - oder überhaupt als Christenmensch - zusätzliche Ressourcen zur Verarbeitung?

Becker: Grundsätzlich gilt natürlich: Man hat Verantwortung für sich selbst, muss sich auch um sich selbst kümmern, sich beobachten: Verändere ich mich, werde ich ernster, reagiere ich aggressiver als früher, wenn ich vom Einsatz nach Hause komme? Aber zum Unterschied zwischen Psychologen und Pfarrern. Gerade die Forschung über Resilienz hat gezeigt, dass die Frage einer Sinngebung wichtig ist: Kann ich das Belastende einordnen in mein Weltbild? Da, denke ich mal, ist der Pfarrer vorne dran, das in sein christliches Weltbild einzugliedern - und der Psychologe ist nicht der Verantwortung enthoben, über seine psychologische Verantwortung hinaus in diese Richtung weiterzudenken, um das Gehörte verarbeiten zu können.

"Ich darf auch in meinem Glauben Fragen offen lassen"


Evangelisch.de:
Wie können Sie das Leid, die Gewalt denn in Ihr Weltbild einordnen?

Becker: Mit diesen Fragen wird man natürlich auch oft in den Gesprächen konfrontiert: Warum ist das gerade mir geschehen? Oder, früher in der Notfallseelsorge, wo man beispielsweise mit Suizid zu tun hatte: Warum gerade mein Angehöriger? Ich denke, dass es auf diese Fragen nach Sinnhaftigkeit des Ganzen keine Pauschalantwort gibt. Einerseits kann man sagen: Wir leben in einer gefallenen Schöpfung - also einer Welt, in der es Kriminalität, bewaffnete Auseinandersetzungen und all die schwierigen Dinge gibt, in der deshalb auch Menschen angegriffen werden, zu Tode kommen oder man in bestimmten Situationen andere Menschen ums Leben bringen möchte. Das ist sozusagen das Menschliche dieser Welt. Auf der anderen Seite gibt es natürlich immer auch Situationen, bei denen auch wir Pfarrer auf die Frage nach dem Warum keine Antwort haben. Manches muss man auch stehen lassen - aber als religiöser Mensch kann man dann zumindest sagen: Ich erkenne darin keinen Sinn, aber ich lege die Frage Gott anheim, warum es gerade so kommen musste. Das heißt, ich darf auch in meinem Glauben Fragen offen lassen.

Evangelisch.de: Zuletzt noch mal weg von der besonderen Situation der Pfarrer: Glauben Sie, dass auch in Deutschland ähnliche Gewaltausbrüche wie jetzt in den USA als Folge von Traumatisierung denkbar sind?

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Becker: Ich berate ja auch Krisenteams für den Einsatz in Schulen. 2001 habe ich die Ausbildung dafür in den USA gemacht. In dieser Zeit war das in Deutschland kein Thema, da hieß es immer: Amokläufe an Schulen passieren in Amerika, bei uns nicht. Ich war deshalb am überlegen, ob sich die Ausbildung lohnt. Mein Ausbilder hat gesagt: Warte mal ab, Uwe, in zwei, drei Jahren gibt es das auch bei euch. Er hatte nicht ganz recht: Nach der Ausbildung hat es gerade mal ein Dreivierteljahr gedauert, dann kam Erfurt. Von daher denke ich schon, dass der aktuelle Amoklauf ein Warnhinweis für uns sein sollte, sorgsamer hinzuschauen, bevor tatsächlich etwas passiert.


Ulrich Pontes ist Politikredakteur bei evangelisch.de