"Erbsenzähler" nennt man besonders pingelige Zeitgenossen, die sämtliche Mitmenschen mit ihrer Überkorrektheit nerven. Der Begriff geht allerdings auf einen freundlichen und umgänglichen Herrn zurück, von dessen sprichwörtlicher Genauigkeit wir noch heute zehren, 150 Jahre nach seinem Tod am 4. Oktober 1859: Es handelt sich um den Verleger und Reiseschriftsteller Karl Baedeker (1801-1859). Er gilt als Urvater der modernen deutschen Reiseliteratur, die von ihm begründete Baedeker-Reiseführer-Reihe besteht bis heute.
Den Spottnamen "Erbsenzähler" verpasste ihm der westfälische Freiherr Gisbert von Vincke im Jahre 1847, als Baedeker beim Besteigen des Mailänder Doms alle zwanzig Stufen stehen blieb und eine alte vertrocknete Erbse aus der Westentasche in die Hosentasche steckte, um die Stufen leichter zählen zu können. Beim Heruntersteigen machte er die Gegenprobe.
1801 in Essen in eine Familie von Verlegern und Buchhändlern geboren, machte Baedeker zunächst in Heidelberg eine Buchhändlerlehre. 1832 übernahm er den Verlag von Friedrich Röhling. Dieser Röhling´sche Verlag nun hatte wenige Jahre zuvor ein damals als ungewöhnlich geltendes Werk herausgegeben: "Rheinreise von Mainz bis Cöln, Handbuch für Schnellreisende", verfasst vom Geschichtsprofessor J. A. Klein.
Erster Schritt zum Massentourismus
Soeben hatte die Preußisch-Rheinische Dampfschifffahrtsgesellschaft den regelmäßigen Schiffsverkehr zwischen Köln und Mainz aufgenommen. Bereits im ersten Jahr waren es 18.000 Passagiere, zehn Jahre darauf sogar schon eine Million, die sich die idyllische Rheinreise nicht entgehen lassen wollten. Das Reisen als Freizeitvergnügen war geboren - und der erste Schritt zum Massentourismus getan.
Der frischgebackene Verleger Baedeker überarbeitete und erweiterte Kleins "Handbuch für Schnellreisende" und ergänzte es durch ähnliche Führer zu deutschen, österreichischen, Schweizer und italienischen Reisezielen. Außerdem gab er der Buchreihe ein einheitliches Gesicht, das er dem Londoner Reisebuchverleger John Murray junior abgeschaut hatte: roter Einband mit Goldprägung.
Baedekers individuelles Gütesiegel waren Übersichtlichkeit, Sorgfalt und Aktualität, sämtliche Reisebeschreibungen wurden regelmäßig überarbeitet. Baedeker ging jeden Sommer persönlich auf Reisen. Er listete Sehenswürdigkeiten auf, notierte Öffnungszeiten, Restaurantpreise, Entfernungen - und eben auch die Zahl der Stufen im Mailänder Dom.
Im rheinischen Pilchow wurde er einmal wegen "Landstreicherei" festgenommen, weil er durch seine detailversessenen Fragen Verdacht erregt hatte. Der Schullehrer Mehlmann hatte die Gendarmen geholt, weil "das Individuum versucht habe, ihn über Bewohner, Anzahl der Pferde, Verkehr der Postkutschen sowie über Viehbestand und alte Gebäude der Gegend auszufragen", heißt es im Polizeiprotokoll. Und weiter: "Angeblicher Bädeker Karl ließ sich ohne Widerstand arretieren. Bei sich trug er zwei Schreibbücher mit verdächtigen Eintragungen sowie Zeichnungen."
Das Lesepublikum dankte ihm seine Genauigkeit mit begeisterter Treue. Baedekers Reiseführer, die bald auch Routen durch Frankreich, Großbritannien, Griechenland, Schweden, Russland, Palästina und Ägypten beschrieben und zum Großteil ins Französische und Englische übersetzt wurden, erreichten bis zu 25 Auflagen. Auch den "Baedeker-Stern" als Qualitätssiegel übernahm er von seinem englischen Vorbild. Sein Hauptwerk erschien 1842: "Handbuch für Reisende durch Deutschland und den Oesterreichischen Kaiser-Staat".
Jules Verne erwähnte Baedeker mehrfach in seinen Romanen, und in Jacques Offenbachs Operette "La Vie Parisienne" heißt es: "Kings and governments may err, but never Mister Baedeker", auf deutsch "Könige und Regierungen können sich irren, aber nie Herr Baedeker". Der Tourismus-Pionier starb am 1859 im Alter von 57 Jahren und liegt auf dem Koblenzer Hauptfriedhof begraben. Seine drei Söhne führten den Baedeker-Verlag fort. Er gehört heute zur MairDumont-Gruppe.