Tagebuch aus Kiew

Betende Menschen in Kiew
Foto: dpa/Robert Ghement
Betende Menschen in Kiew
Tagebuch aus Kiew
Charis Haska, Ehefrau des deutschen evangelischen Pfarrers in Kiew, Ralf Haska, erlebt den Umbruch in der Ukraine hautnah mit. Die deutsche Kirche und das Pfarrhaus stehen mitten in der Stadt. Auf Facebook berichtet Charis Haska vom Alltag der Menschen in der Stadt, vom Leben in der deutschen Gemeinde und vom Mut der Ukrainer. Wir dokumentieren einen Teil ihrer Facebookeinträge seit Mitte Februar 2014 in Auszügen.
21.03.2014
evangelisch.de
Charis Haska

14. Februar: Also doch!

Habe heute Nacht schlecht geschlafen. Das ist eigentlich nichts Besonderes. Dann hörte ich es etwa um zwanzig nach eins viermal rhythmisch knallen. Nicht so laut, wie damals die Blendgranaten am Maidan. Jetzt im Nachhinein meine ich mich sogar an ein leichtes Gefühl von Rauch zu erinnern. Konnte eigentlich nicht sein. "Sch... Baustelle!", dachte ich. Morgens habe ich aus einer verlässlichen Anwohnerquelle erfahren, dass auf der Kreuzung an der Kirche seit Sonntag nachts regelmäßig (regelmäßig!!) Wagen der Miliz durch Molotow- Cocktails in Brand gesteckt werden.

Habe jetzt doch unseren Fahrer gebeten, dass er die Kinder nachmittags nach der Schule an einer Stelle aus dem Auto lässt, die mir als sicherer erscheint. Nichts davon in der Presse. Eine Meldung stieß mir morgens auf: "Kiew versinkt im Valentinsrausch!" Allen Verliebten einen schönen Valentinstag. Ich liebe meinen Mann. Und die Ukraine.

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14. Februar: Wir warten

"Wir warten!", das ist im Russischen eigentlich eine warme Einladung, ähnlich, wie das "Kumm ball widder" (Komm bald wieder!) der Bäckersfrau meiner Kindheit. Heute hat es für mich eine anders klingende Aktualität. Als ich gegen 20 Uhr mit dem Hund vom Spaziergang kam, hörte ich durchs gekippte Fenster unser erfrischendes Nachbarsmädchen Klavier spielen. (…) Ich konnte nicht anhalten und schrie ihr ein "Bravo, Anjuta!" hoch. Da kam sie ans Fenster, bedankte sich höflich (ich bin immer so begeistert von den hiesigen Jugendlichen, sie sind oft aufgeschlossen, hilfsbereit, zuvorkommend und strahlen eine angenehme Heiterkeit aus), wollte gern wissen, wie es uns geht. Na, ganz gut eigentlich. - Und, was sie mich sowieso schon mal fragen wollte (ha, dasselbe wollte ich sie ja auch schon seit langem fragen...) "Wie gefallen Ihnen eigentlich die Ereignisse auf dem Maidan?". Ich überlege kurz und sage dann von Herzen: "In den ersten Wochen fand ich‘s richtig gut. Und jetzt beunruhigt mich ziemlich, dass es doch nicht ohne Gewalt abgeht. Und wie gefallen sie Dir?" - "Ich hab es auch in der ersten Zeit richtig toll gefunden. Und jetzt hab ich das Gefühl, als ob gar nichts passiert..." (….)  Frage mich, ob meine Facebookfreunde schon mehr wissen als ich, wie es weitegehen könnte - und merke: Wir warten.

15. Februar

Nach dem Kindergottesdienst fragte mich ein Vater nach der Telefonnummer der Kirche. Sein Kind geht in die Schule, die direkt neben unserer Wohnung liegt. "Es könnten Situationen eintreten, in denen Mama das Kind nicht rechtzeitig von der Schule abholen kann. Darf es dann hier in der Kirche sitzen?"

16. Februar: Begegnungen

"Wie geht es Deinen Kindern?" frage ich. Sie strahlt: "Oh, Papa hat jetzt viel mehr Zeit für sie. Er hat seine Arbeit bei der Polizei gekündigt. Das war eine gute Entscheidung. Er konnte es vor seinem Gewissen nicht mehr verantworten, für dieses System zu arbeiten. Die Veränderungen im Land sind einfach zu schrecklich. Ich bin mir sicher, dass er eine andere Arbeit findet." - "Geht es Ihnen wirklich gut?" - "Ja." antworte ich. Sie sagt. "Ich lese alle Ihre Berichte auf Facebook. Und es macht mir Angst. Angst um Sie, um Ihren Mann. Und vor allem um Ihre Kinder. Seien Sie vorsichtig. Denn in diesem Land ist die Wahrheit nicht immer willkommen..."

18. Februar, 16.20 Uhr

Auf dem Rückweg von der deutschen Botschaft kommen uns Ströme von Menschen entgegen. Etliche fragten, wie sie zum U- Bahnhof Teatralna kommen. Und ob dort nicht gekämpft wird. Von der Institutskaja aus beginnt man den Maidan zu räumen, sagt Ralf mir am Telefon. Schwere Rauchwolken über dem Kreschtschatik. An der Ecke Sankowezkaja Luteranskaja sehe ich in den Strömen auch die Geigenbauerin. Sie ruft mir zu "Domoj, domoj!" (Nach Hause, nach Hause).

17.00 Uhr: So, auch die Kinder sind nun zu Hause. Unsere lieben Gemeindeglieder rufen in höchster Besorgnis an und bieten uns Quartiere am Stadtrand an. Die Luteranska (Straße, an der die Kirche liegt, d. Red.) ist menschenleer und still.

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18.00 Uhr: Ich sehe gerade die Live- Übertragung vom Maidan. Tjagnibok hält eine flammende Rede für ein friedliches Ausharren. Den schwarzen Wolken über dem Kreschtschatik nach zu urteilen, die ich unterwegs gesehen habe, hätte ich gedacht, dass der Maidan schon brennt. Von der Deutschen Botschaft bekamen wir die dringende Empfehlung, zu Hause zu bleiben, oder ins Hotel umzuziehen

23.00 Uhr: Meine Freundin schreibt: "Auf dem Maidan ist es überhaupt nicht furchtbar, wirklich! Ich habe niemanden - und das unterstreiche ich, niemanden gesehen, der in Panik geriet. Niemand ist im Begriff, von dort wegzugehen. Die da sind, antworten auf besorgte Anrufe ihrer Lieben: "Na, wo sollte ich denn sonst sein?". Die Männer hier empfehlen den Frauen eindringlich, weiter wegzugehen (…).

Tanja hatte mich am Nachmittag ganz besorgt angerufen, ob wir in Sicherheit sind. Sie selber hatte heute Ängste ausgestanden, weil ihre Tochter im Alter unserer Kinder zu einer Sportveranstaltung unweit der Geschehnisse war. Wie erleichtert war sie dann, das Kind wohlbehalten zu Hause zu wissen! Dann sagte sie: "Ich geh nach der Arbeit zum Maidan." Und ich sagte: "Bitte nicht, um Ihrer Kinder und unsrer Freundschaft willen."

Daran, dass sie doch hingegangen ist und jetzt erst schreibt, ist abzulesen, wie ernst die Situation ist. Nebenbei habe ich die Live- Übertragung von Espresso.tv laufen, flammende Gedichte darüber, dass nur Sklaven zu Hause vor dem Fernseher sitzen, Kiew aber aufgewacht ist aus der Sklaverei. Dann inbrünstig wieder und wieder die Nationalhymne. Und innige, laute Gebete über Mikro, einschließlich des Vaterunsers. Schüsse im Hintergrund. Oh, bitte unterstützt die Ukrainer mit Euren Gebeten in ihrer Sehnsucht!

19. Februar

Als ich mich unserem Eingang nähere, sitzt unser bezauberndes Nachbarsmädchen wieder mal mit angezogenen Knien im Fenster im ersten Stock, in ein Buch vertieft. Ich rufe ihr ein "Priwjet" zu und sie öffnet das Fenster. Fragt nach meinem Ergehen. Und ich nach ihrem. "Naja, ganz gut. Aber ich fühl mich gar nicht wohl dabei, dass meine Eltern mich nicht rauslassen. Ich möchte so gerne dem Maidan helfen. Es ist doch mein Land..." - "Bete!" sage ich. "Auch damit kannst Du dem Land helfen. Es ist wohl besser, wenn Frauen und Mädchen nicht hingehen." Und ich habe dabei das Gefühl, etwas völlig Unnützes gesagt zu haben.

20. Februar

Anruf der Deutschen Botschaft: Warum ist Ralf nicht zu erreichen? Wie viel Verwundete sind zur Zeit in der Kirche? Ich verspreche das zu klären. Bin ganz froh, einen Anlass zu haben, um mal aus dem Hof heraus zu kommen. Aufgeregt kommt mir die Frau entgegen, die bei der Wohnungskommission arbeitet: "Da brauchen Sie nicht weiterzugehen, die lassen jetzt niemand mehr durch." - "Schießen Sie?" - "Nein, aber es ist zu spüren, dass sie beunruhigt sind."

Etwas weiter hoch will der erste Posten der Miliz mich aufhalten. "Ich geh bloß zur Kirche", rufe ich und bin schon weiter, da ruft er mir nach: "Was geht jetzt auf dem Maidan vor sich?" Ich kann ihm natürlich nichts sagen, weil ich nicht vom Maidan komme. In der Kirche kommt mir Valera entgegen. Ralf ist mit Journalisten auf den Maidan gegangen. Oh, Gott, muss das sein? (…)

Ralf ruft an. Er kommt Gott sei Dank vom Maidan zurück. Er hat alles beobachtet. Die Demonstranten haben ihre frühere Barrikade wieder eingenommen. Ein Mann hat ihm unter Tränen erzählt, dass er gerade zwei seiner Freunde als Leichen weggetragen hat. Wann findet dieser Wahnsinn ein Ende? Betet! Betet!

21. Februar, 15.30 Uhr

Die Situation ist schwierig einzuschätzen. Mittags hörten die Kinder und ich wieder das Geräusch von Presslufthämmern. Sehr wahrscheinlich Maschinengewehrlärm. In heller Aufregung rief ich Ralf an, der mir eine gute halbe Stunde vom Maidan aus mitgeteilt hatte, dort sei alles friedlich. Nicht zu erreichen. Ich schrieb ihm eine verzweifelte SMS, er solle sofort heimkommen. Kurze Zeit später verständnislose Reaktion. Was das denn solle… Nein, wirklich alles ruhig… (…)  Ui, Ralf  ruft an: „Du wirst nicht erraten, wo ich stehe: Direkt vor dem Präsidentenpalast. Berkut scheint zu fliehen. Ich bin mit der Presse hier. Wenige Leute mit Kalaschnikoff.“

22. Februar, 12.13 Uhr: Das Land ist traumatisiert

Ralf hat sein Telefon zu Hause vergessen. So lenke ich meinen Hundespaziergang zur Kirche. (…) Alexander kommt mir entgegen und erzählt von der vergangenen Nacht. Bis früh um fünf kamen schichtweise die Leute vom Selbstschutz des Maidan, um sich zu wärmen, die Toilette zu benutzen. Und vor allem: Um zu reden. Um zu erzählen, was sie Schreckliches erlebt haben. Es sind vor allem ganz junge Leute um die zwanzig Jahre alt und sie warten nicht ab, bis man sie fragt. Es bricht regelrecht aus ihnen hervor, sie müssen es loswerden. Alexander sagt, wir bräuchten eigentlich einen Psychologen vor Ort, so schwer ist die Last, die diese jungen Menschen jetzt auf ihre Seele liegen haben.

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Ich bin ein bisschen traurig, dass ich in diesen Momenten nicht selbst da war, ich kann auch gut zuhören und wäre auch gerne nützlich gewesen. Für mich ist es besonders in diesen Tagen oft nicht leicht zu entscheiden, wo ich dringender gebraucht werde. An der Seite meiner Kinder, die hautnah Zeitgeschichte erleben, oder doch in der Nähe der Hilfsbedürftigen. Ich bleibe diesmal ein bisschen länger in der Kirche, um noch ein wenig  von der Stimmung mitzubekommen. Ein in sich zusammengekrümmter Mensch taumelt auf den Ausgang zu. Valera ruft: "Vater, Vater, kommen Sie schnell!"

Der Geistliche, der seit einigen Tagen wegen eine gebrochenen Rippe in der Kirche Unterschlupf gefunden hat, eilt herbei und geht auf den Menschen einredend mit ihm mit. Ralf hat sich gerade zu mir auf die Bank gesetzt und wir fragen Valera nach diesem Menschen. "Er hat gebrannt." Wie bitte? Ja, er gehörte zu der Hundertschaft, die im brennenden Gewerkschaftshaus waren. "Er sagt immer wieder die Zahl sechs. Er sagt, sechs  von den vielen, die da drin waren haben überlebt. Und wie er nach Luft schnappt, so..." Valera macht uns das vor, es ist  beängstigend und nicht zu beschreiben. "Aber wo will er den hin?" fragen wir besorgt. "Auf die Barrikaden. Kämpfen."

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