Die Zahlen sprechen für sich: Jedes zweite Obdachlosen-Hilfswerk in Großbritannien musste 2011 finanzielle Einschnitte hinnehmen. In Irland schrumpften die Budgets für Sozialwohnungen um zwei Drittel. Tschechien kürzte seine Sozialausgaben jüngst um über 15 Prozent. In Griechenland ist die Lage längst desolat: Dort stehen Schulen leer, fehlen Ärzte, ist jeder Dritte nicht krankenversichert.
Europa kämpft sich durch die Schuldenkrise und verordnet sich dabei nach wie vor strikte Sparmaßnahmen. Zu den letzten Errungenschaften gehört der "Fiskalpakt" zwischen 25 Regierungen, der im Moment im deutschen Bundestag und anderen Parlamenten zwecks Ratifizierung beraten wird. Vorgesehen sind Schuldenbremsen nach deutschem Vorbild. Diese dürften vielerorts auch die Sozialausgaben treffen, die in den Haushalten einen Löwenanteil stellen.
Den Fiskalpakt durch einen Sozialpakt ergänzen
Soziale Organisationen sind zunehmend alarmiert und fordern von der Politik, behutsam vorzugehen. "Der Fiskalpakt muss durch einen Sozialpakt ergänzt werden", verlangt Conny Reuter, der Präsident der "Sozialen Plattform" in Brüssel. Der größte europäische Sozial-Dachverband vereinigt über 40 Organisationen. "Der Fiskalpakt könnte Europa schwächen, indem er die gesellschaftlichen Ungleichheiten verschärft. Er schadet auch dem Wirtschaftswachstum", warnt Reuter.
Der Experte fordert unter anderem, die Schuldenbremsen nicht rigoros anzuwenden, wenn es um Investitionen in Soziales und Bildung geht. Außerdem sollten nach seiner Meinung die Regeln für die Sozialfördertöpfe in Brüssel geändert werden: In dringenden Fällen sollten auch dann Gelder fließen, wenn die nationale Regierung oder Kommunen selbst nichts zuschießen können.
Reuter will auch die Debatte um europaweite Grundeinkommen wieder anfachen. Er verlangt Initiativen, um Menschen in Arbeit zu bringen, und will Sonderregeln für soziale Dienstleistungen. "Der soziale Fortschritt muss in das Primärrecht eingegossen werden", unterstreicht er.
Geld sparen und bestehende Systeme verbessern
Doch wie soll sozialer Schutz bezahlt werden, wenn das Geld an allen Ecken und Enden fehlt? Zunächst einmal ließen sich die bestehenden Systeme verbessern, meinen Ökonomen, etwa aus der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris. Sie gehen zum Beispiel davon aus, dass sich im europäischen Gesundheits- und Bildungswesen viele Milliarden einsparen und umleiten ließen, ohne dass die Qualität darunter leidet.
An energischen Spar- und Reformprogrammen kämen Europa und vor allem die Krisenländer nicht vorbei, unterstreichen die Pariser Experten. Die OECD hat aber auch Vorschläge, wie die Staaten ihre Einnahmen steigern könnten. Neben dem Kampf gegen Steuerflucht und Steuerschlupflöcher sieht die Organisation Spielraum für Steuererhöhungen.
Die Fachleute können sich etwa höhere Immobilien- und Konsumsteuern vorstellen - auch in Deutschland -, während sie höhere Einkommensteuern zurückhaltend sehen. Der Brüsseler Sozial-Aktivist Reuter plädiert seinerseits für eine Debatte über "Steuergerechtigkeit statt Steuersenkungen" und eine Steuer auf Finanzgeschäfte, um die Banken an den Kosten der Krise zu beteiligen.
Gewerkschaften gegen Einschränkung der Tarifautonomie
Ein echter "Europäischer Sozialpakt" nach Reuters Vorstellung dürfte freilich schwer durchzusetzen sein. Immerhin hat er in Brüssel Verbündete: die europäischen Gewerkschaften. Der EU-Gewerkschaftsbund ETUC blickt mit Entsetzen nach Griechenland, wo es bei den Arbeitnehmerrechten ans Eingemachte geht. So wurde die Tarifautonomie der Arbeitnehmer und Arbeitgeber massiv eingeschränkt - auch auf Druck der Europäischen Union hin.
Dabei sind das Recht auf Tarifverhandlungen und das Streikrecht sogar Bestandteile der Europäischen Grundrechtecharta. Die Gewerkschaften wollen deshalb im Rahmen eines europäischen Sozialpakts noch einmal explizit auf diese Rechte hinweisen. Am Beispiel Deutschland lasse sich erkennen, dass starke Gewerkschaftsrechte nützlich seien, meint der ETUC: "Dank der Tarifkompromisse hat sich die Industrie dort in den letzten 15 Jahren gehalten und weiterentwickelt."