Filmkritik der Woche: "Exit Marrakech"

Foto: epd-bild/Frizzi Kurkhaus/Studiocanal
Filmkritik der Woche: "Exit Marrakech"
Irgendwo in Afrika: In "Exit Marrakech" erzählt Caroline Link differenziert eine Vater-Sohn-Geschichte.
23.10.2013
epd
Patrick Seyboth

"Erleb mal was", rät der von Josef Bierbichler gespielte Schulleiter seinem in letzter Zeit mürrisch und desinteressiert wirkenden Schüler Ben zu Beginn der Ferien in einer Prologszene. Doch der 16-jährige Ben (Samuel Schneider) fliegt eher unwillig nach Marrakesch, wohin ihn sein Vater Heinrich (Ulrich Tukur) eingeladen hat. Heinrich ist ein vielbeschäftigter Theaterregisseur, der dort bei einem Festival inszeniert.

Seit vielen Jahren leben Bens Eltern getrennt, Vater und Sohn haben sich lange nicht gesehen. Trotz seiner Einladung scheint Heinrich auch kaum an Ben interessiert, während Ben sich längst in seinem Groll gegen den ewig abwesenden Vater eingerichtet hat und nicht versteht, wieso der mit seiner "ewigen Klassikerscheiße" auch noch den afrikanischen Kontinent behelligt.

###mehr-artikel###Als die beiden am Pool des Hotels sitzen und Ben in einem Versuch der Annäherung vorschlägt, gemeinsam die Stadt zu erkunden, lehnt Heinrich ab. Er lese lieber Paul Bowles, denn: "Manchmal ist die Fantasie spannender als die Realität" - für Ben der Auslöser, loszuziehen und das Gegenteil zu beweisen.

Gemeinsam mit Bens Blick öffnet sich nun auch der Blick des Films, bei dem Caroline Link nach "Nirgendwo in Afrika" erneut mit Produzent Peter Herrmann zusammengearbeitet hat. Er löst sich von anfänglich eher touristisch-pittoresken Bildern vom Gewimmel auf Märkten und Altstadtgassen und lässt sich auf Entdeckungen und Begegnungen ein.

Es ist eine der großen Stärken von Caroline Link, dass sie allen Figuren mit größter Aufmerksamkeit und Respekt begegnet. Nicht nur die Hauptrollen, sondern auch marokkanische Nebenfiguren in Kurz- und Kürzest-Auftritten erscheinen als individuelle Charaktere voller Ambivalenzen, was gerade eher beiläufige Szenen spannend macht.

Schönheit und Fremdheit des Maghreb

Ebenso ist das Land Marokko hier nicht bloß Kulisse für ein deutsches Familiendrama, sondern eigenständiger Protagonist, dessen Eigenarten auf die Geschichte einwirken. Kamerafrau Bella Halben setzt Schönheit wie Fremdheit des Landes und der maghrebinischen Kultur in berückende Bilder, verzichtet dabei aber auf alle Postkartenidyllen.

Wie klischeehaft hätte dieser Film mit seiner vertraut klingenden Story werden können,  etwa wenn Ben sich ins Nachtleben von Marrakesch stürzt, eine junge Prostituierte namens Karima (Hafsia Herzi, bekannt aus "Couscous mit Fisch") kennenlernt, sich in sie verliebt und mit ihr in die Berge zu ihrer Familie fährt, ohne seinen Vater zu informieren, worauf dieser in Panik nach dem verlorenen Sohn suchen lässt.

Wie banal könnte auch die Wiederbegegnung von Vater und Sohn ausfallen, ihre Sticheleien und Kämpfe, ihre Annäherung beim gemeinsamen Kiffen, bis das Drama in einem Zwischenfall auf Leben und Tod kulminiert. Doch "Exit Marrakech" erstickt nie in Konventionen, obwohl er Schwächen hat: die etwas dick aufgetragene Zuspitzung der Ereignisse gegen Ende, Papiergeraschel im einen oder anderen Dialog sowie eine Musik, die oft allzu ostentativ die Emotionen in einer Szene unterstreicht.

Raum für Differenzierung und leise Töne

Glücklicherweise hat aber das wunderbare Ensemble genug Raum für Differenzierung und leise Töne. Zudem unterläuft der Film manche Erwartung, etwa wenn Bens und Karimas Liebesgeschichte sich so völlig anders entwickelt, als man zunächst vermuten könnte. Auch Bens Trip in die Wüste führt nicht zur mystischen Erfahrung von Weite und Einsamkeit, gar zu plötzlicher Selbstfindung - Ben schnappt sich lieber ein paar Ski und rast damit die Dünen hinab.

Seine Figur ist ungewöhnlich angelegt: So gutaussehend und selbstsicher er daherkommt, trägt Ben doch seine Kindheit noch in Form einer Zahnspange mit sich herum, und dass er Diabetiker ist, mag zunächst nur wie ein oberflächliches Accessoire seiner Verletzlichkeit wirken, spielt aber im Verlauf der Geschichte noch eine wichtige Rolle.

Das Schönste an diesem Film aber sind die Phasen, in denen er jede kalkulierte Dramaturgie von Coming-of-Age links liegen zu lassen scheint. Dann driftet er genau wie seine Hauptfigur ins Offene, Unbekannte, um dort erst zu entdecken, wie es weitergehen könnte.

Deutschland/Frankreich 2013. Regie und Buch: Caroline Link. Mit Ulrich Tukur, Samuel Schneider, Hafsia Herzi, Marie-Lou Sellem, Josef Bierbichler. Länge: 122 Minuten. FSK: 6, ff.