Wann immer ich mit Freunden aus Deutschland nach Istanbul reiste, sie durch "meine Stadt" führte und ihnen Orte meiner Kindheit zeigte, war seit Anfang der 1990er Jahre auch das Swissotel Bosphorus eine Station der Sight-Seeing-Route. Am Vorplatz des Dolmabahçe-Sarayi, dem Palast des letzten Osmanischen Sultans, mit Blick auf die bombastische Bettenburg, stellte ich Freunden stets die selbe Frage: "Hätte im Park von Versailles oder von Sanssouci oder in den Grünanlagen eines anderen historischen Stätte ganz ohne Proteste ein Hotel entstehen können - noch dazu eines, das nichts anderes als ein hässlicher Betonklotz ist?"
Ich konnte mir das nicht vorstellen. Dass in der türkischen Metropole historische Grünanlagen ohne mit der Wimper zu zucken dubiosen Städtebauprojekten geopfert wurden, das musste ich mir nicht vorstellen. Ich konnte es mir anschauen: Ein Teil des Palastgartens war ja zum Baugrund umgewidmet worden, ohne dass sich Protest dagegen formiert hatte. Ein Grund dafür: Zivilgesellschaftliches Engagement und Bürgerinitiativen - das war vor zwei Jahrzehnten kaum bekannt in der Türkei.
Es begann wie bei "Stuttgart 21"
Zwei Jahrzehnte später sieht die Situation am Bosporus ganz anders aus: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdo?an trotzt Expertisen von Fachgremien und dem Widerspruch einer Vielzahl von Städteplanern, hält an seinem Vorhaben fest, auf dem Areal des Gezi-Park am zentralen Taksim-Platz eine Shopping-Mall zu errichten - und zwar nach Plänen einer Kaserne aus osmanischer Zeit.
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Als Mitte vergangener Woche bekannt wird, dass es eine Order fürs Fällen der Bäume gibt, bäumt sich Widerstand auf. Ein paar dutzend Menschen errichten vor Ort ein Zeltlager, um gegen die Vernichtung eines der letzten Grünanlagen im städtischen Raum zu protestieren und um zu verhindern, dass die Bäume gefällt werden. Bürger, die sich mit ihrem Viertel identifizieren, die einen Sinn für Städtebau und auch ökologisches Bewusstsein haben und das wenige Grün der zur Megacity mutierten Stadt nicht gegen wirtschaftliche Interessen austauschen wollen, machen sich vergangenen Mittwoch auf den Weg zum Gezi-Park.
Es sind vor allem junge Menschen – Menschen mit friedlichen Absichten, Frauen und Männer, von denen so manche im Ausland studiert haben, die berufliche und private Kontakte nach Europa und in andere Teile der Welt haben und auch mithilfe der neuen Medien über den Tellerrand schauen. Es sind Studenten, Akademiker, Angestellte, Künstler, Mittelstandsbürger, Menschen mit unterschiedlichen politischen Einstellungen und Lebensstilen, Menschen, die global vernetzt sind und Organisations- und Protestformen aus funktionierenden Demokratien in ihrem Land auch umsetzen wollen.
Leider bleibt es nicht friedlich
Gerade deswegen agieren sie nicht als Mitglieder der Oppositionspartei, nicht als Vertreter bestimmter Organisationen und nicht als Angehörige ethnischer oder religiöser Gruppen - den Demonstranten ist es wichtig, als Bürger wahrgenommen zu werden, die hoffen, dass ihr ziviles Ungehorsam wirksam wird. Sie schlagen ihre Zelte auf und machen mit Lesungen und Konzerten auf ihr Anliegen aufmerksam. Es ist eine friedliche Versammlung von Menschen, die sich Ende Mai auf den Weg gemacht haben, um im Park von Ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machen wollen.
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Es bleibt aber nicht lange friedlich! Die Polizei geht unverhältnismäßig hart vor, zielt willkürlich mit Wasserwerfern und Tränengas auf die Demonstranten. Berichte, Bilder und Videoaufnahmen darüber werden über Soziale Netzwerke in Umlauf gebracht, was dem Protest eine neue Dynamik verleiht. Am Tag zwei machen sich Tausende Istanbuler auf dem Weg zum Park, um sich mit den Demonstranten zu solidarisieren. Die Polizei hält an der Gewaltstrategie fest - auch in den darauffolgenden Tagen. Einige Tote, mehr als 2000 Verletzte und hunderte von inhaftierten Demonstranten: Das ist am Montagabend die Bilanz nach den Protesten, die auch auf andere Städte übergeschwappt sind.
Es gibt aber auch eine ganz andere Interpretation des Aufstands in der Türkei, dessen Ausgangspunkt der Gezi-Park war und der sich am Wochenende zu Demonstrationen gegen den Regierungsstil von Premier Erdo?an ausweitete. "Warum nur solch ein Aufschrei wegen ein paar Bäume?", fragt sich allen Ernstes ein Teil der Menschen in der Türkei; ein anderer Teil braucht nicht davon überzeugt zu werden, "dass den Protestierenden eigentlich die Bäume egal sind und sie lediglich einen Anlass suchen, um Unruhe zu stiften und das Image der wirtschaftlich wachsenden Türkei im Ausland zu beschädigen", heißt es in einem Pro-Erdo?an-Facebook-Posting.
Unterhaltungsprogramm in türkischen Medien
Diese Bürger sind ganz auf Erdo?ans Seite, es sind die 50 Prozent, für die er seine Politik umsetzt. Der Ministerpräsident tritt am Montagmorgen vor seiner planmäßig erfolgten Rundreise nach Marokko, Tunesien und Algerien vor die Presse und erklärt, dass hinter den Protesten steckten "ausländische Mächte" und "ein paar Herumtreiber und Extremisten". Wieder einmal wittert Erdo?an Verschwörungstheorien und marginalisiert die Hälfte der türkischen Bevölkerung, die seinen autokratischen Regierungsstil nicht mehr ertragen will. "Ein paar Vagabunden, die der Türkei schaden wollen", wie der Premier verkündet - diese Ansicht teilen seine Anhänger sein und all jene, die sich lediglich über die kommerziellen und auf Regierungslinie gebrachten Medien informieren.
Während am Wochenende ausländische TV-Kanäle und Radioprogramme über die Aufstände in Istanbul, Ankara, Izmir und anderen Städten berichteten, sparen nämlich türkische Mainstreammedien die Ereignisse im Land aus und füllen ihre Sendezeit mit Serien und anderen Unterhaltungsprogrammen. Über Facebook, Twitter und andere soziale Kanäle werden die Ereignisse aber penibel dokumentiert, im Sekundentakt Fotos, Videos und Berichte in Umlauf gebracht. Regierungstreue Nutzer der Sozialen Netzwerke unterstellen, dass die Postings, Filme und Fotos Fakes seien. Die "Bewegung" zu diskreditieren, gelingt ihnen aber nicht.
Die "Bewegung", so bezeichnen die Demonstranten ihren Aufstand gegen Erdogan. Und immer wieder ermahnen sie sich, Ruhe zu bewahren und sich bloß nicht aufhetzen zu lassen - nicht von der Polizei und nicht von den Provokateuren, die sich unter die Menschenmengen mischen, um den friedlichen Protest, in dem es in der Tat längst nicht mehr um Bäume geht, nicht eskalieren zu lassen.
Sie lassen sich nicht mehr vorschreiben, was sie denken sollen
Der Aufstand in der Türkei, der in Istanbul mit ein paar hundert Menschen im Gezi-Park begann und denen sich nach der massiven Polizeigewalt aus Solidarität andere anschlossen, ist zum Aufstand all derer geworden, die den immer mehr diktatorische Züge annehmenden Ministerpräsidenten und seine autokratische Politik nicht mehr erdulden wollen.
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Die, die in diesen Tagen in der Türkei auf die Straße gehen, lehnen sich gegen das Diktat einer Regierung auf, die sich auf den Islam beruft und zunehmend die Freiheiten von Andersdenkenden einschränkt. Wenn sich Erdogan in seinen öffentlichen Ansprachen sich auf "das Volk" beruft, das ihn gewählt habe, dann handelt es sich um nicht mehr als 50 Prozent der türkischen Bevölkerung. Denn die andere Hälfte will sich nicht mehr vorschreiben lassen, wie sie auf öffentlichen Plätzen sitzen und verhalten sollen, wie sie sich anzuziehen und zu reden haben, wie sie denken sollen und was sie essen und trinken dürfen. Sie wollen, dass ihr Lebensstil respektiert wird und ihre Bürgerrechte nicht mit den Füßen getreten werden.
Die jüngsten Ereignisse und Beschlüsse der Erdogan-Regierung haben das Fass zum Überlaufen gebracht: Ende Mai wurde in Ankara ein Paar, dass sich in einer U-Bahnhaltestelle küsste, von städtischen Mitarbeitern zum "moralischen" Verhalten aufgefordert; und als Bevormundung sehen Teile der Bevölkerung das vor kurzem verabschiedete Gesetz, das den Verkauf von alkoholischen Getränken einschränkt.
Leitsätze von Atatürk sind keine Lösung
Die massive Polizeigewalt am Gezi-Park war ein Auslöser für die "Bewegung", in der sich Menschen unterschiedlicher Gruppierungen vereint haben, um gegen Erdogan aufzubegehren. Was den Aufständen folgt? Das ist mehr als ungewiss. Denn es gibt keine ernstzunehmende Oppositionspartei, die die Regierungsaufgabe übernehmen könnte. Das ist das nächste Problem, dem sich die Wutbürger stellen müssen. Der von einem Teil der Demonstranten propagierte Kemalismus – also die Leitsätze des Republikgründers Kemal Atatürk aus den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – bieten keine alleinige Lösung für die Probleme der Türkei im 21. Jahrhundert.
Ich bin gespannt auf die Entwicklungen. Ob Erdo?an an seinem Plan festhalten wird und auf seinen Bebauungsplan für das Areal des Gezi-Parki beharren wird? Ich hoffe, dass ich diesen Ort nicht als Beispiel der Bausünden in meine Sightseeing-Tour durch Istanbul aufnehmen muss.