Das Predigt-Manuskript von Bischof Baines vom Kirchentag

Das Predigt-Manuskript von Bischof Baines vom Kirchentag
Die Predigt beim Abschlussgottesdienst des 34. Deutschen Evangelischen Kirchen hielt der anglikanische Bischof Nicholas Baines. Evangelisch.de dokumentiert das Manuskript seiner Predigt in der vor dem Gottesdienst vorliegenden schriftlichen Fassung.
05.05.2013
Bischof Nicholas Baines, Bradford

Predigttext: Micha 4, 4-5 (Kirchentagsübersetzung): "Alle Menschen aus Israel und den Völkern werden unter ihrem eigenen Weinstock und unter ihrem Feigenbaum sitzen - niemand wird mehr Terror verbreiten. Denn das Wort ADONAJS, mächtig über Himmelsheere, wirkt. Ja, alle Völker handeln im Namen ihrer Gottheiten, wir handeln im Namen ADONAJS, unseres Gottes, jetzt schon - und in der Zukunft." Es predigte der Nicholas Baines, anglikanischer Bischof von Bradford.

 

Ich habe zwei Enkelkinder, die noch ganz klein sind. Der ältere von ihnen heißt Ben, er wird bald drei Jahre alt. Er wächst in Liverpool auf, wo der Dialekt einzigartig ist. Ben hat ein besonderes Sprachvermögen für Sprichwörter, er lernt sie schnell, aber er benutzt sie nicht immer richtig. Ich bin sehr gespannt, was er aus dem Sprichwort "Deine Augen sind größer als dein Magen" machen wird. So wie viele Kinder seines Alters kann er essen wie ein Scheunendrescher und manchmal nimmt er mehr als er braucht, mehr als er überhaupt essen kann. Aber das wird er noch lernen, während er größer wird.

Das wird er doch, oder?

Die Menschen verfügen über die verblüffende Eigenschaft, alles haben zu wollen, was sie sehen. Die Menschen in den Entwicklungsländern beneiden die Konsumgesellschaft der Industriestaaten: "mehr Dinge zu haben" wird gleichgesetzt mit Erfüllung und Sicherheit. Unsere Konsumgesellschaft, unterstützt durch eine clevere Werbeindustrie, die an unsere Gier und unsere Angst appelliert, geht davon aus, dass wir materielle Dinge anhäufen müssen, um glücklich zu sein. Das führt uns zu einer Lebensweise, in der wir unbewusst arbeiten, um shoppen zu können und in der wir denken, dass wir irgendwie mangelhaft oder gescheitert sind, wenn wir nicht alles dafür tun, glücklich zu sein.

Vielleicht sollten wir auf die Antwort hören, die der amerikanische Multimillionär Nelson Rockefeller einem Journalisten gab, als er gefragt wurde, wie viel jemand braucht um glücklich zu sein. Er sagte: "nur ein kleines bisschen mehr."

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Die größte Supermarktkette in England heißt Tesco. Wir haben einen Spruch, der unsere Konsumgesellschaft charakterisiert: "Tesco ergo sum - Ich kaufe ein, also bin ich." Obwohl, eigentlich glauben wir natürlich, dass Menschen mehr wert sind als ihre Besitztümer oder ihr Erfolg; wir glauben, dass die Menschen nicht nur fürs Einkaufen gemacht sind. Shopping ist vielleicht gut für die Wirtschaft, aber mitunter kann es schlecht für die Seele sein.

Und zugleich nehmen wir doch auch die Aussage in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika ernst: Das Streben nach Glück ist ein Menschenrecht. Allerdings ohne dass wir jemals definieren, wie dieses Glück denn wohl aussehen könnte.

Wie viel ist "genug"? Wie viel, und wovon brauche ich, um zufrieden zu sein? Und ist "zufrieden sein" das gleiche wie "glücklich sein"?

Der Prophet Micha dachte über diese Dinge nach, lange bevor es iPhones, Designerjacken und Sportwagen gab. Banken- und Währungskrise lagen noch weit in der Zukunft und doch: Michas Gesellschaft rang mit den schwierigen Fragen, wie man leben und lieben sollte mit Menschen, die einfach nicht so waren, wie man sie gern hätte. Kein Wunder, dass der Autor der Klagelieder im Alten Testament müde seufzte: "Es gibt nichts Neues unter der Sonne." Michas Welt und seine Fragen kommen uns bekannt vor, oder? Er schrieb im Kontext einer wirtschaftlichen Revolution. Materieller Wohlstand führte zu seiner Zeit zu einem individualistischen Materialismus. Religion wurde als ein Mittel angesehen, die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen zu erfüllen – was man auch Selbstverwirklichung nennen könnte. Das wiederum hatte zu einer Krise der ethischen und sozialen Werte geführt, wobei, wie in solchen Fällen üblich, die Ärmsten am meisten leiden mussten. Ungerechtigkeit, Gier und Abgötter des Selbstschutzes charakterisierten die Gesellschaft und prägten die politische und wirtschaftliche Ausrichtung. Die Religion war gezähmt, sie hatte ihre Schärfe verloren - die Schärfe, die daraus resultiert, dass man eine andere Welt für möglich hält.

Was Micha zu sagen hat, war also nicht nur für sein eigenes Stammesvolk vor vielen Jahrhunderten im Nahen Osten von Bedeutung, sondern es spricht heute zu uns. Denn was er anspricht, sind nicht nur ganz spezielle soziale oder wirtschaftliche Verhältnisse, sondern das Herz und der Verstand des Menschen - und beides scheint sich, ungeachtet all unseres technologischen Fortschrittes, nicht so besonders zu verändern von einer Generation zur nächsten (oder von einem Jahrtausend zum nächsten ...) Es sieht so aus, als wollten wir heute immer noch glücklich und erfüllt und zufrieden sein. Allerdings erkennen wir dabei (immer noch) nicht, dass es solches Glück, solche Erfüllung und Zufriedenheit nicht für Einzelne - oder einzelne Gemeinschaften – geben kann, ohne Rücksicht auf das Glück, die Erfüllung und Zufriedenheit dessen, den die Bibel meinen "Nächsten" nennt.

Man könnte hinzufügen, dass dies auch für unsere politische Besessenheit mit Sicherheitsfragen gilt. Ich werde niemals sicher sein, wenn meine Sicherheit die Sicherheit meines Nächsten verneint. Ich kann nicht über Sicherheit nachdenken, ohne die Bedürfnisse meiner Nachbarn in Betracht zu ziehen.

Und deswegen steht ein großes Fragezeichen über den Sicherheitsanlagen und Mauern dieser Welt, sei es die niedergerissene Mauer in Berlin, seien es die, die im Heiligen Land errichtet werden. Haben wir die Kraft der Zehn Gebote vergessen, die uns auffordern, die Interessen unseres Nächsten als integrales Element unserer eigenen Interessen zu verstehen?

Aber Micha geht es weniger um die Errichtung eines politischen Programmes als vielmehr um eine Vision. Die Menschen seiner Zeit hatten ihren Weg verlassen, sie hatten sich verlaufen und ihre Geschichte vergessen - ihre Geschichte als Kinder Gottes, der das Universum geschaffen hat und alles, was darin ist, einschließlich der Armen, der Ausländer und derjenigen, die "anders" sind. Micha rief sie auf, nicht nur eine Vision "da draußen" zu ergreifen, sondern sich ergreifen zu lassen von einer Vision, die sie verändert und die Weise, wie sie Gott, die Welt und sich selbst sehen.

Es ist, als ob Micha zu seinem ängstlichen Volk sagt: "Die alte Art und Weise zu sehen und zu sein hat nicht funktioniert, oder? Fühlt ihr euch jetzt sicherer oder glücklicher? Wagt es doch euch einzugestehen, dass eure Sichtweise müde und matt ist, und dass alles worauf ihr gehofft und wofür ihr gearbeitet habt, um euch herum in Schutt und Asche liegt wie die Ruinen einer einstmals glorreichen Stadt. Wie Damaskus oder Bagdad oder Aleppo..."

Eine beliebte Comedy-Serie im Norddeutschen Rundfunk spielt in einem Schlemmerbistro. Ein geflügelter Satz von Bistrobesitzerin Stefanie lautet "Es is‘ ja wie es is‘..." - so ist die Welt eben. Aber die Bibel untergräbt unser Verständnis der Wirklichkeit und lädt uns ein, nein, fordert uns heraus - Gott, die Welt und uns anders anzusehen. Die Welt muss nicht so sein, wie sie jetzt ist!

Sie kennen doch bestimmt Michelangelo, den berühmten italienischen Künstler? Eines Tages rollte Michelangelo ein Riesen-Felsbrocken einen Abhang hinunter. Er musste seine ganze Kraft aufbieten, um den Stein in die richtige Richtung zu manövrieren. Jemand sah ihn dabei, blieb stehen und fragte, was er da tun würde, schließlich sei es doch bloß ein riesiger Stein. Michelangelo erwiderte, dass er es eilig hätte, denn in dem Stein würde sich ein Engel befinden, der nur darauf warte, dass Michelangelo ihn heraushole.

Michelangelo konnte sehen, was normale Menschen sich überhaupt nicht vorstellen konnten. Und diese kurze Geschichte illustriert die herausfordernde Berufung der Menschen, die durch Gottes Augen hinausschauen möchten. Sehen wir nur das, was uns vor Augen steht, oder schauen wir die Welt um uns herum anders an?

Micha lädt uns ein, anders zu denken, Gott und die Welt anders zu sehen und uns anfeuern zu lassen von einer Vision einer anderen Welt. Eine Welt, in der wir uns genügen lassen mit dem, was wir haben und in der unsere Nächsten zufrieden sein können, ohne dass wir Angst haben müssen.

Die Bilder, die er in Kapitel 4, Verse 4 bis 5 entwirft, sind wohlüberlegt: Es wird keinen Terror und keine Angst geben, weil ihr mit eurem eigenen Baum zufrieden sein werdet und den Baum deines Nächsten nicht erobern müsst, weil ihr ihn nicht braucht. Schließlich kann man immer nur unter einem Baum gleichzeitig sitzen, oder?

Diese Vision geht davon aus, dass Individuen und Gemeinschaften, die sich von einer solch veränderten Vision anfeuern lassen, nur das nehmen, was sie brauchen und sich das versagen, was sie nicht brauchen. Sie werden Wirtschaftsmodelle in Frage stellen, die den Gott des unendlichen Wirtschaftswachstums anbeten - als wüssten wir nicht um die Konsequenzen solchen Wachstums. Und sie sind nicht zufrieden, wenn ihr Feigenbaum nur auf Kosten oder als Bedrohung des Feigenbaums ihres Nächsten wachsen kann.

Christen müssen mit einer solch erneuerten Vision beginnen. Und nicht mit einer Art von Vision, wie sie Dietrich Bonhoeffer in seinem Buch "Gemeinsames Leben" verspottete, wo er schreibt: "Gott hasst visionäres Träumen, es macht den Träumer stolz und überheblich." Michas Vision verbindet Idee und Aktion, Wort und Tat. Es geht nicht um fromme Absichten, sondern das hartnäckige Bemühen zu erkennen, wann wir genug haben und dann aufzuhören, während wir gleichzeitig darauf achten, ob unser Nächster mehr braucht.

Micha malt ein Bild davon, wie und was die Welt werden könnte - ein Bild, das weit über bloße Argumentation hinausgeht, und sich als ein Bild der Hoffnung und der Verheißung in der Phantasie einnistet. Es ist, als ob er leise eine Melodie spielt, die sich im Geist eines verlorenen Volkes langsam zu einem Ohrwurm der Hoffnung und Sehnsucht entwickelt.

Diese Vision strahlt Frieden aus; das Lied klingt nach einer Liebe und Freizügigkeit, die die Angst verdrängt oder ersetzt. Nach dieser Vision würden alle Menschen - unabhängig davon, welche Sprache sie sprechen, unabhängig davon, welche Kultur sie hervorbrachten - in Sicherheit und ohne Furcht vor ihren Nachbarn leben. Der Gott Israels nimmt die Angst und schafft eine neue Welt voller neuer Möglichkeiten für das Aufblühen und das Gemeinwohl aller Völker.

Und diese Vision ruft das Volk Gottes zu seiner ursprünglichen Berufung zurück: so in der Welt zu leben, dass alle Menschen in diesem Volk das Gesicht Gottes erkennen können.

Micha fordert uns auch heute heraus, durch eine Vision inspiriert zu werden, die unsere Phantasie anregt, unser Gedächtnis verfolgt, und aus der wir nicht entkommen können. Michelangelo hatte die fertige Skulptur vor Augen; er musste einfach den Stein behauen, bis der Engel sich zeigen würde, der darin steckte. Er sah tiefer, er konnte das Mögliche deutlich erkennen, und so wandte er seine ganze Kraft und Energie darauf, um eine Schönheit zu erschaffen, die anderen zu diesem Zeitpunkt noch verborgen war.

Wir sind dazu berufen, wie Michelangelo zu schauen, Gottes Gesicht in der Welt zu erkennen, und der Welt diese Hoffnung zu enthüllen. Der kanadische Musiker Bruce Cockburn fasst die Forderung Michas zusammen, wenn er singt: "Du musst die Dunkelheit treten, bis sie Tageslicht blutet" ("You gotta kick at the darkness till it bleeds daylight").

Soviel du brauchst. Nur soviel du brauchst. Vielleicht lernt auch mein Enkel irgendwann: Wenn er hat, so viel er braucht, dann hat er genug.