Filmkritik der Woche: "Nachtzug nach Lissabon"

Foto: dpa/Sam Emerson
Filmkritik der Woche: "Nachtzug nach Lissabon"
Europäisches Kino mit Starbesetzung: Die Verfilmung von Pascal Merciers Weltbestseller "Nachtzug nach Lissabon" mit Jeremy Irons in der Hauptrolle changiert geschickt zwischen Charakterstudie und historischem Politthriller.
06.03.2013
epd
David Siems

Alles beginnt mit einem vertrauten wie stets bedrohlichen Szenario: Eine junge Frau mit leerem und müdem Blick steht auf dem Geländer einer Brücke und schickt sich an, tief hinab in die Fluten zu fallen. Eigentlich wirkt alles friedlich an diesem frühen Morgen in Bern. Der Lehrer Raimund Gregorius (unfassbar erschöpft aussehend: Jeremy Irons) erblickt die junge Frau zufällig auf seinem Weg zur Arbeit und rettet sie, entgegen seinen Gewohnheiten, mit Entschlossenheit und beherztem Zupacken.

Ein bescheidener Mann, der sich mit Ende 50 nach Abenteuer und wildem Leben sehnt: Pascal Merciers Roman "Nachtzug nach Lissabon" wurde vor wenigen Jahren zum weltweiten Bestseller, weil er eine Vielzahl von Themen mit enormer Sprachvielfalt und erzählerischem Talent anspricht. Diesen Galopp durch die Genres und Stimmungen greift Regisseur Bille August dankend auf, denn die Geschichte ist klassischer Filmstoff. Er widmet sich gezielt der Charakterstudie seines Antihelden Raimund Gregorius: ein Eigenbrötler, der sich als Lehrer verdingt und als Literaturfachmann über dem Lesen ganz vergessen hat, wie sich das echte Leben anfühlt. Jeremy Irons füllt diese Figur mit größtmöglicher Fragilität und bohrendem Selbstzweifel aus, ohnehin darf er hier einen gebrochenen Mann spielen, aus dessen Gesicht zunächst jede Vitalität verschwunden scheint.

Raimund Gregorius findet im Mantel der geretteten Frau ein Zugticket nach Lissabon und ein Buch des portugiesischen Philosophen Amadeu de Prado, der im faschistischen Portugal der frühen 70er Jahre als Arzt im Widerstand kämpfte. Einer plötzlichen Laune folgend, reist Gregorius an die Atlantikküste, um sich auf Spurensuche nach einem Revolutionär zu begeben und dabei seinen eigenen, im Tiefsten verborgenen Sehnsüchten zu folgen.

Klima der Angst

Vor der sonnendurchfluteten und lebensbejahenden Kulisse Lissabons spielt sich daraufhin die Crème de la Crème europäischer Charakterdarsteller die Bälle zu: Martina Gedeck, Bruno Ganz, Charlotte Rampling sowie August Diehl, Mélanie Laurent und Jack Huston. In historischen und detailgetreuen Rückblenden nimmt der Film Fahrt auf: Das Klima der Angst und die ständige Flucht vor den Schergen in schwarzen Lederjacken montiert Kameramann Filip Zumbrunn als blassbläulichen Bilderrausch oder in fortwährenden Nachtaufnahmen, während die Momente der Gegenwartsaufnahmen so sehr in Sonne und Licht getränkt sind, dass man die Meeresluft Lissabons förmlich atmen kann.

Unbedingt lobenswert sind auch der mittlerweile 90-jährige Christopher Lee, Burghart Klaußner und Lena Olin, die in dieser deutsch-schweizerisch-portugiesischen Koproduktion kleine, aber gewichtige Nebenrollen besetzen. Ohnehin entwickelt sich "Nachtzug nach Lissabo"n mit fortwährender Spieldauer zum exzellenten europäischen Autorenkino, das trotz spärlichen Budgets (7,7 Millionen Euro) beeindruckende Schauwerte liefert. Viel eindrücklicher ist allerdings das entgegengesetzte Spiel der beiden Hauptfiguren: zum einen Jeremy Irons als erschöpfter, aber abenteuerhungriger Literat, auf der anderen der glutäugige Jack Huston, der sich als portugiesischer Philosoph mit Verve und Verstand in das Leben stürzt.

Regie: Bille August. Buch: Greg Latter, Ulruch Herrmann (nach einem Roman von Pascal Mercier). Mit: Jeremy Irons, Mélanie Laurent, Beatriz Batarda, Martina Gedeck, Tom Courtenay, bruno Ganz, Charlotte Rampling, Christopher Lee, Burghart Klaußner. L: 110 Minuten. FSK: ab 12, ff.