Der Streit um den verschobenen Armutsbericht der Bundesregierung sei dabei "ein Beispiel für die Verlogenheit der Politik", sagte Wehler. Dem mündigen Staatsbürger wolle man eine ehrliche Debatte offenbar nicht zumuten. Der Historiker, der sich bis zu seiner Emeritierung 1996 in zahlreichen Publikationen kritisch mit der jüngeren deutschen Geschichte auseinandergesetzt hat, warnte davor, "diese extreme Verzerrung nach oben" weiter zu betreiben. Das Thema soziale Gerechtigkeit müsse deutlicher artikuliert und debattiert werden, forderte er.
Auch kritisierte Wehler die Einwanderungspolitik. Um den Fachkräftemangel aufzufangen, müsste der Staat die Aufnahme von Einwanderern mehr steuern. "Kanada zum Beispiel nimmt auch viele Einwanderer auf, lässt sich deren Qualifikation aber vorher belegen", erläuterte der Historiker seine These.
Aus eigenem Antrieb in die Parallelgesellschaft
Den Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland warf er vor, zum größten Teil aus eigenem Antrieb heraus in einer Parallelgesellschaft zu leben. Die seit den 60er Jahren eingewanderten türkischen Gastarbeiter seien "hier, um für sich zu bleiben" und "erstaunlich resistent geblieben gegen jede Form von Aufstiegsdenken oder Weiterbildungsangeboten".
Wehler veröffentlichte 1987 das fünfbändige Standardwerk "Deutsche Gesellschaftsgeschichte", das die Zeit von 1700 bis 1990 abdeckt. Für seine wissenschaftliche Arbeit erhielt er zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen.