Es ist schon Jahre her. Aber Ursel Dohse erinnert sich noch gut an ihren Verlobten, der an einem Herzinfarkt gestorben ist. Hier, im Bremer Trauercafé für Erwachsene mit einer geistigen Behinderung, kann die 77-Jährige darüber reden. Und es macht gar nichts, wenn jetzt Tränen fließen. "Einmal Kraft für Ursel", bittet Pädagogin Wiebke Voller die Gruppe. Hände greifen ineinander, der Kreis schließt sich, ganz fest.
Rituale wie diese sind es, die Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Trauergruppe helfen. Alle zwei Wochen trifft sich der Kreis der Lebenshilfe, oft gibt es selbst gebackenen Kuchen, immer lockt der Duft von frisch gebrühtem Kaffee. "Ich komme gerne hierher", sagt Manfred Marggraf. "Ich habe schließlich Probleme und dann muss man auch sagen, was Sache ist, dann muss man sich aussprechen." Damit meint der 73-Jährige unter anderem den Tod seiner Tante, von der er sich nicht verabschieden konnte. "Ich konnte nicht zur Beerdigung, das hat mir wirklich gefehlt".
Wut und Trauer Raum geben
"Wenn Trauer nicht ausgelebt wird, kann das langfristig körperliche und psychische Auswirkungen haben", sagt Dörthe Taubel, die zusammen mit Wiebke Voller die Gruppe leitet. Das bestätigt auch die Würzburger Psychologin und Trauerexpertin Daniela Tausch. "Der Tod, der Verlust ist grausam, ohne Zweifel", räumt sie ein. "Aber wenn die Trauer fehlt, können in der Konsequenz Angst, Panikstörungen und Depressionen entstehen." Gesünder sei es, Wut und Trauer Raum zu geben: "Sich das zu erlauben, das ist wichtig."
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Frauen und Männern mit geistiger Behinderung aber wurde lange die Fähigkeit abgesprochen, überhaupt trauern zu können. "Bis heute werden sie bei Traueranlässen oft nicht einbezogen", sagt Pfarrer Hans Heppenheimer. Er hat darum mit Unterstützung der Bosch-Stiftung in der Diakonie von Mariaberg auf der Schwäbischen Alb ein Modellprojekt der Behindertenhilfe ins Leben gerufen. Dazu gehören Gesprächsgruppen, Studientage für Mitarbeitende und Rituale des Abschieds.
Heppenheimer hat beobachtet, dass geistig behinderte Männer und Frauen immer wieder erst nachträglich über den Tod eines Angehörigen informiert werden oder bei Beerdigungen nicht dabei sind. "Dabei ist die Beerdigung doch ein Schlüsselerlebnis für den Abschied und für die Trauer um einen verstorbenen Menschen", sagt der evangelische Theologe.
Behinderte Menschen nicht schonen
Er erinnert sich an die Wut einer Frau, die in Mariaberg wohnt. Ihr Vater war gestorben, aber die Todesnachricht wurde ihr von den Angehörigen erst Wochen später überbracht. "Sie hatte eine unbändige Wut, sowohl über den Tod des von ihr sehr geliebten Vaters als auch über ihre Familie, die sie ausgegrenzt hat. Sie war völlig ungehalten und warf Geschirr an die Wand."
Heppenheimer meint, dass es vielfach die Unsicherheit der Angehörigen ist, die den Schmerz vertieft. "Ich glaube, wir müssen die behinderten Menschen in Trauersituationen nicht schonen, im Gegenteil", sagt der Pfarrer. "Menschen mit geistiger Behinderung haben besondere Fähigkeiten in der Trauer, sie sind offener, direkter, emotionaler." Vielleicht, mutmaßt der Theologe, "vielleicht wollen wir indirekt uns schonen vor den Gefühlen der behinderten Trauernden, die uns verunsichern und denen wir uns nicht gewachsen fühlen?"
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Behinderte Menschen trauern dabei nicht nur um Freunde oder Angehörige. "Es geht genauso um Konflikte am Arbeitsplatz, um Streit in der Wohngruppe, um das Gefühl, abgeschoben zu sein, oder um den unerfüllten Wunsch, eine eigene Familie zu gründen", sagt die Bremer Pädagogin Wiebke Voller. "Dazu kommt: Wer nicht lesen oder nur wenig sprechen kann, der kann seine Trauer auch nicht in Worte fassen." Deshalb malen und basteln die Bremer, gießen Gedenkkerzen und gestalten Bilderrahmen für die Fotos Verstorbener. Ähnliche Rituale gibt es auch in Mariaberg.
Mittlerweile ist daraus eine richtige Bewegung entstanden. Immer mehr Einrichtungen organisieren Schulungen für Mitarbeitende. Von diesen Ansätzen einer neuen Trauerkultur für geistig behinderte Menschen profitiert auch der Bremer Wolfgang Kriener, der seine Eltern und seinen Bruder verloren hat. "Ich hatte von Kindesbeinen an mit dem Tod zu tun", denkt der 68-Jährige zurück. "Hier im Trauercafé der Lebenshilfe habe ich Freunde gefunden, hier finde ich Gleichgesinnte. Das tut mir gut.