Das Massaker und der Männlichkeitskult

Ein Jugendlicher als Schattenriss
Foto: particula/photocase
Wer sind die jungen Männer, die in den USA Amok laufen?
Das Massaker und der Männlichkeitskult
Die USA trauern um die Opfer von Newtown, doch das Land wird bald wieder zur Tagesordnung übergehen. Der Massenmord, dem 20 Kinder und sechs Erwachsene zum Opfer fielen, wirft unterdessen erneut ein Schlaglicht auf die meist männlichen und jugendlichen Attentäter. Wer sind sie, was macht sie zu Verbrechern? Eine Analyse.

Nach dem Schulmassaker im US-amerikanischen Newtown mit 28 Toten wurde in den gesamten USA geweint und gebetet. Präsident Barack Obama mahnte mehrmals: "So darf es nicht weitergehen", und es sei "an der Zeit zu handeln". Tatsächlich stecken die Befürworter von strengeren Waffengesetzen erstmals ernsthaft die Köpfe zusammen, um praktikable Reformen einzuleiten.

Die Tage und Wochen nach einem Massenmord, begangen von einem Einzeltäter in einer Schule, einem Einkaufszentrum oder Regierungsgebäude, folgen inzwischen einem Ritual – so, als wäre es Tradition. Die Nation ist schockiert und übt, einem Exorzismus gleich, die Aussonderung des Übeltäters. Er kann nicht aus der Mitte stammen. Er gilt als "Außenseiter" und "geisteskrank". Sein Psychoprofil wird im medialen Schnellverfahren erstellt. Daneben produzieren die Massenmedien erschütternde Porträts der Opfer und ihrer Familien.

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Zeitgleich ertönt der Ruf nach parteiübergreifender "Heilung". Man dürfe die Tragödie politisch nicht ausschlachten, warnen die im rechten politischen Spektrum angesiedelten Stimmen, die mit den Waffenlobbys verbandelt sind. Doch wenn die Kerzen der Mahnwachen verloschen sind, geht es so weiter wie bisher.

Vielleicht aber ist es dieses Mal angesichts der Schwere der Tat anders – vielleicht erreichen die Wellen der Erschütterung, die einen Großteil der US-Bevölkerung aufwühlt, dieses Mal ja wirklich die Politik. Von einer Debatte über "gun control" ist die Rede. Immerhin, im Vergleich zu den letzten Jahren. Aber reichen strengere Gesetze, wenn sie durchgesetzt würden, denn aus? Ist das Problem in den USA wirklich auf die bloße Verfügbarkeit von Waffen beschränkt?

Hat sich das Land einfach daran gewöhnt?

Erstaunlicherweise hinterfragt zur Zeit kaum jemand die immer wiederkehrende männliche Täterfigur. Haben sich die USA schon so sehr an den Typus des männlichen Massenattentäters gewöhnt, dass sie nach den psychologischen und geschlechterspezifischen Hintergründen gar nicht mehr fragen?

Die Gewaltkultur ist eindeutig männlich dominiert. Der New Yorker Soziologieprofessor Norman Birnbaum zieht bei der Bewertung dieses Tatbestands einen historischen Bogen, der ungebrochen scheint: von den Zeiten der Besiedelung des Landes, die mit der Selbstjustiz einherging, über den Kampf gegen die Indianer und militärische Expansionskriege, gewalttätige Interventionen in Lateinamerika, die Vorbereitung auf Atomkriege, den Vietnamkrieg, die Irak- und Afghanistankriege – bis hin zu den mörderischen Drohneneinsätzen.

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Die amerikanische Gesellschaft wähne sich traditionell von Feinden umzingelt und im Inneren bedroht, konstatiert Birnbaum. Als vermeintlichen Schutz- und Abwehrmechanismus bringe sie exzessive Gewalt hervor - mit hochgerüsteter Polizei auf der staatlichen Ebene und mit der individuellen Hochrüstung zum "Schutz vor Verbrechen". Die Träger dieser ungeheuren Gewaltpotenziale wähnen sich tatsächlich als "Beschützer" – und sie sind mit überwältigender Mehrheit Männer. Die USA litten, so Birnbaum, unter einem "Männlichkeits- und Härtekult".

Obama stellt das Rollenbild in Frage

So gesehen stellte Präsident Obama in den Stunden nach dem Massenmord von Newtown das überlieferte männliche Rollenbild für ein paar Sekunden in Frage, als er vor laufenden Fernsehkameras seiner Trauer freien Lauf ließ. Er war sichtlich den Tränen nahe. Doch die von männlicher Gewalt durchsetzte amerikanische Gesellschaft rührt er dadurch wohl kaum an.

Die Zahlen, die in wenigen Fachzeitschriften für Strafrecht und von marginalisierten Feministinnen vorgebracht werden, sind gleichwohl erschütternd: Junge Männer zwischen 14 und 24 Jahren stellen zwar nur sieben Prozent der US-Bevölkerung, begehen aber 45 Prozent aller Morde. 90 Prozent aller Gewaltverbrechen werden von Männern begangen. Bei den Mehrfachmorden mit vier oder mehr Opfern ist die Kluft zwischen den Geschlechtern noch größer. So war für die 62 großen Massenmorde, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten in den USA begangen wurden, nur eine einzige Frau Täterin.

Täter wollen ihr Selbstbild wiederherstellen

Weshalb begehen fast immer nur Männer Massaker, Taten wie jene in Connecticut? Eine der wenigen wissenschaftlichen Studien, die sich aus strafrechtssoziologischer Sicht damit befasst haben, wurde im "Southwest Journal of Criminal Justice" veröffentlicht. Die Autoren hatten monatelang die Biografien von 28 amerikanischen Massenmördern seit 1970 verglichen. Ihr Forschungsergebnis: Massaker seien der "Versuch der Täter, ihre hegemoniale männliche Identität wiederherzustellen, die beschädigt oder ihnen verweigert wurde", eine Identität, so die Autoren weiter, "die ihnen aus ihrer eigenen Sicht als Männer in der amerikanischen Kultur zusteht".

Eine Verschärfung des Waffenrechts würde die historisch gebildete Gewaltstruktur, die aus dieser Sicht für immer einzementiert scheint, wohl nicht anrühren. Aber es würde potentiellen Gewalttätern immerhin das Handwerk erschweren und Menschenleben retten.