Um kurz vor 14 Uhr schnürt Schwester Hildegard Schwegler im Friedwald-Büro ihre Wanderschuhe, zieht eine warme Jacke an und ein wollenes Stirnband um die silbergrauen Haare. Sie konzentriert sich, um nichts zu vergessen: Ihr Namensschild, ein paar Broschüren, und – ganz wichtig – den kleinen runden Korb mit den Lederriemen, in dem eine weiße Urne steckt. Schwester Hildegard steigt in ihr Elektromobil und fährt - den Spaziergängern winkend - zum "Eingang" des Friedwaldes.
Dass hier der "normale" Wald aufhört und der Friedwald beginnt, ist an einem großen Holzkreuz und einer Schautafel zu erkennen. Knapp 30 Besucher mit Wanderstöcken, Schals und Handschuhen warten schon. Ihre bunten Winter-Anoraks leuchten im trüben Novemberwald, das Laub ist schon vertrocknet und raschelt bei jedem Schritt. Die Stimmung schwankt seltsam zwischen Totenruhe und der aufgeregten Neugier, die am Anfang einer Führung zu spüren ist: Wie funktioniert das, wenn hier die Asche Verstorbener vergraben wird? Und: Was ist daran evangelisch?
"Erstmal darüber reden, was der andere will"
Gertraud und Peter Reck aus Muhr am See in der Nähe von Ansbach sind gekommen, ein Ehepaar im mittleren Alter. "Wir haben keine Kinder", erzählt er, "und wollen uns mal grundsätzlich Gedanken machen." Gedanken über das Sterben, den Tod, die letzte Ruhestätte. Friedhöfe findet Peter Reck nicht besonders ansprechend – "Unser Grab soll schöner werden", spottet er über den Blumenschmuck-Wettbewerb in manchen Dörfern.
Peter und Gertraud Reck aus Muhr am See könnten sich vorstellen, an einem Baum im Friedwald Schwanberg bestattet zu werden. Fotos: evangelisch.de/Anne Kampf
An eine Seebestattung hatte Peter Reck schon gedacht, doch seine Frau meint: "Es ist besser, einen Anlaufpunkt für die Trauer zu haben." Die beiden brauchen Informationen, um eine Entscheidung treffen zu können. "Wichtig ist es, überhaupt mal darüber zu reden, was der andere will", meint Peter Reck, und seine Frau nickt.
In diesem nebligen, stillen Buchen- und Eichenwald über das Sterben nachzudenken, das muss nicht unbedingt eine traurige Angelegenheit sein. Jedenfalls nicht mit Schwester Hildegard, die munter mit ihren Erklärungen beginnt: Ein großes Waldstück auf dem Plateau über den Weinbergen gehört der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Sie war damit einverstanden, als die FriedWald GmbH das Gelände für Bestattungen nutzen wollte. 2007 wurde der erste und bisher einzige evangelische FriedWald in Deutschland eröffnet. Drei Schwestern der Communität Casteller Ring (CCR) übernahmen die Betreuung der Kunden.
Gerade kommt Schwester Edith mit einem Kunden aus dem Wald. "Wir haben einen gefunden!" strahlt sie und zeigt Schwester Hildegard wie zum Beweis ein gelbes Band, das sie von einem Baum entfernt hat. Der Kunde, ein grauhaariger Mann, sagt nichts. Er hat vor wenigen Minuten seinen eigenen Bestattungsort ausgesucht - das mag ein bewegendes Gefühl sein… Doch vielleicht ist es auch ein Gefühl der Sicherheit. Besucher Peter Walk, ein junger Mann mit Dreitagebart und blau-gelber Fleecejacke, meint später: "Ich könnte ruhiger schlafen, wenn ich wüsste, dass ich hier einen Baum habe."
Walzer und Harfenspiel am Grab
Mittlerweile ruht die Asche von rund 700 Verstorbenen in diesem Friedwald. Die Urnen sind jeweils kreisförmig im Abstand von zweieinhalb Metern um die Baumstämme herum angeordnet. Doch Baumstamm ist nicht gleich Baumstamm: Es gibt Gemeinschaftsbäume, Partnerbäume, Familien- und Freundschaftsbäume, gekennzeichnet durch verschiedenfarbige Bänder. Aus der "Baumart" und dem Durchmesser der Stämme errechnen sich die Preise. Ein Prachtbaumplatz kostet 1200 Euro, ein Basisplatz ist schon für 490 Euro zu haben. Kostenlos sind die Bestattungsplätze für verstorbene Babys und totgeborene Kinder am Sternschnuppenbaum.
Schwester Hildegard Schwegler erklärte den Besuchern der Friedwald-Führung jedes Detail: Wie die urne verschlossen wird, wieviel Erde man braucht um sie zu vergraben, wie die Trauerfeier gestaltet werden kann und wie teuer die Bestattungsplätze an den Bäumen sind.
Die Erläuterungen von Schwester Hildegard sind wohltuend sachlich, sie erklärt die Farben und Preise, demonstriert die Urne mit dem Tragekorb, reicht Namensschilder herum und zeigt ein kleines Erdhäufchen mit Spaten. Nur an manchen Stellen spüren die Zuhörer plötzlich einen kleinen traurigen Stich im Herzen. Der "Sternschnuppenbaum" ist so eine Stelle. Oder der Gemeinschaftsplatz mit der Skulptur des "Schutzmantelchristus", der seine Arme ausgebreitet hat. "Wir sind erlöst und geborgen in den Armen Gottes", so interpretiert Schwester Hildegard das Kunstwerk. Die Künstlerin selbst habe mehr an die Angehörigen gedacht und den Vers "Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken" ausgesucht.
Nicht nur Christen lassen sich hier im evangelischen Friedwald bestatten, und erst recht nicht nur evangelische. Auch viele Katholiken sind darunter, und etliche Konfessionslose. Wer selbst bei einem Todesfall in der Familie keine Worte findet, kann die Trauerfeier im Wald von den Schwestern gestalten lassen. Doch die meisten wollen selbst reden, vorlesen, musizieren, Lieder singen. Eine Frau, deren Mann gerne Walzer getanzt hatte, ließ in der Trauerfeier "An der schönen blauen Donau" anstimmen, so dass sich die Angehörigen am Grab an den letzten Tanz des Verstorbenen erinnerten. Im Friedwald Schwanberg wurde auch schon Trompete, Gitarre, Saxophon und sogar Harfe gespielt.
Evangelische Freiheit und Gebets-Service
Wahrscheinlich denken jetzt alle Besucher darüber nach, mit welcher Musik, welchem Ritual, welchen Bildern sie selbst bestattet werden möchten. Oder von wem man wohl zu Grabe getragen wird. Schwester Hildegard erzählt die rührende Geschichte von der Bestattung einer verunglückten 21-jährigen Frau, es sei die bisher längste Beerdigung im Schwanberger Friedwald gewesen: Der Trauerzug vom Gemeinschaftsplatz zum Grab musste ständig unterbrochen werden, weil alle Freunde der jungen Frau die Urne ein Stückchen tragen wollten.
Das kleine Holzkreuz kennzeichnet den "Demonstrationsbaum" und kann bei der Trauerfeier verwendet werden. Die Gräber an sich sind völlig schmucklos - die Natur übernimmt die Grabpflege.
Vielleicht ist das das "Evangelische" an diesem Friedwald, meint Schwester Hildegard: Die Freiheit, einen Abschied so zu gestalten, wie man möchte. "Es gehört zu unserem Konzept, dass die Angehörigen möglichst viel selber machen." Doch das ist es nicht allein: In anderen Friedwäldern ist ein Förster dabei – hier eine Ordensschwester. Und das macht selbst für Menschen, die sich der Kirche nicht besonders nahe fühlen, einen Unterschied. Peter Walk zum Beispiel findet, es sei eine angenehme Vorstellung, dass eine Schwester zur Beerdigung kommt. Auch nach der Bestattung sind sie da, denn die Schwestern wohnen hier oben auf dem Schwanberg: Schwester Hildegard erzählt von zufälligen Begegnungen mit Angehörigen, die manchmal Gesprächsbedarf haben - spontane Seelsorge im Wald.
Außerdem beten die Schwestern für die Familien – ein "Service", den sie sehr ernst nehmen, auch wenn die Angehörigen davon gar nichts mitbekommen. Jeden Sonntag werden die Namen der in dieser Woche Verstorbenen im Fürbittengebet genannt, und einmal pro Jahr laden die Schwestern zum Gedenkgottesdienst ein. Auch die individuelle Trauerarbeit wird von den Schwestern unterstützt: Jeweils am Todestag liegt ein Gedenkblatt aus, ein DIN-A-4-Blatt in einer Klarsichthülle, auf dem die Familien gemalt, aufgeklebt und aufgeschrieben haben, was sie mit dem Verstorbenen verbinden.
Weder "unwürdig" noch "anonym"
Als die Friedwald-Idee vor rund zehn Jahren aus der Schweiz nach Deutschland kam, hatten manche Kirchen Vorbehalte: Diese Bestattungsart sei zu anonym und außerdem unwürdig. Für Schwester Hildegard ist es ein Leichtes, die beiden Argumente zu entkräften: Die individuelle Gestaltung der Beerdigungen erlebt sie als besonders würdevoll. Eine Witwe zum Beispiel habe zuerst völlig erstarrt am Grab ihres Mannes im Wald gestanden und den anderen Trauergästen zugesehen, wie sie langsam Erde auf die Urne schaufelten. Dann habe es in der Frau plötzlich "gezuckt", berichtet Schwester Hildegard. "Ach, du hast ja immer so gern im Garten gearbeitet!" habe sie gerufen, zum Spaten gegriffen und den Rest zugeschaufelt.
95 Prozent der Kunden wollen, dass ein Namensschild an ihrem Baum befestigt wird. Darüber freut sich Schwester Hildegard: "Der Name gehört zu unserer Würde", sagt sie. Auch für die Angehörigen seien die Namensschilder sinnvoll, denn so haben sie einen konkreten Ort zum Trauern. Blumen dürfen hier allerdings nicht gepflanzt werden, auch sonstiger Grabschmuck ist verboten. "Die Grabpflege übernimmt die Natur", betont Schwester Hildegard und berichtet von einer Witwe, der es im ersten Jahr der Trauer ein Bedürfnis war, Rosen auf den Waldboden zu legen. Die Blumen wurden konsequent weggeräumt und am Gemeinschaftsplatz abgelegt.
Partnerbaum, Gemeinschaftsbaum - oder doch lieber ein Grab?
Die Besucher sind nachdenklich geworden. Eine ältere Dame sagt: "Das ist nichts für mich" – sie möchte lieber ein richtiges Grab mit Blumen und Grabstein haben. Ganz anders Gertraud und Peter Reck aus Anspach. "Für mich ist das hier eine Option!" sagt er, und seine Frau fügt hinzu: "Mir ist es auch wichtig, dass es kirchlich ist und nicht nur der Förster da ist." Einen Partnerbaum wollen sich vielleicht aussuchen, keinen Gemeinschaftsbaum, denn "mit acht Fremden unter einem Baum wäre es komisch", findet Peter Reck.
Mandie und Peter Walk aus Schwarzach suchen noch einen gemeinsamen Zugang zum Thema Sterben: Sie wagt kaum daran zu denken, er stellte bei der Friedwald-Führung eine Menge Fragen.
Die beiden haben jetzt einiges zu besprechen und wirken dabei sehr lebendig. "Wir wollen ja noch 30 oder 40 Jahren leben", schmunzelt sie. Trotzdem: Falls einer krank werden sollte, wäre ein Gespräch über den Tod vermutlich schwieriger, also tun sie es besser jetzt, wo es beiden noch gut geht. Ganz anders Mandie Walk. Ihr Mann hat viele Fragen gestellt während der Friedwald-Führung und kann sich gut vorstellen, einmal hier bestattet zu werden. Sie meint allerdings: "Er stirbt gar nicht!", schaut ihn liebevoll an und lacht. An den Tod des Partners zu denken, erscheint ihr im Moment noch zu schwer.
Doch auch nach dem Tod des Partners ist ein Weiterleben möglich. Schwester Hildegard erzählt von zwei Witwen, deren Männer hier unter den Bäumen begraben liegen. Die eine kommt aus Fürth, die andere aus Nürnberg. Alle 14 Tage fahren die beiden Frauen mit dem Taxi auf den Schwanberg, plaudern mit den Schwestern, spazieren in den Wald. Sie sind hier bekannt und haben auch einander schon ziemlich gut kennen gelernt - eine Friedwald-Freundschaft ist entstanden. Bei schönem Wetter wandern die beiden Damen durch die Weinberge ins Tal hinunter.
Dieser Artikel wurde am 17. November 2012 auf evangelisch.de veröffentlicht