Die Frau sitzt aufmerksam und gleichzeitig andächtig da. Ihren Kopf hat sie auf die Hände gestützt, die Augen sind geschlossen. Neben ihr ein Mann, der aufrecht auf einem kleinen Baumstumpf hockt. Die Arme hat er vor der Brust verschränkt, seine Augen und sein Kopf sind in Bewegung. Er scheint die Umgebung abzusuchen und wirkt dennoch ebenfalls versunken. Wohl um die zwanzig Baumstümpfe stehen hier dicht beieinander in dem kleinen Wäldchen in der Kasseler Karlsaue. Auf jedem Stamm sitzt jemand, andere stehen dicht dabei – alle sind in dieser aufmerksamen Andächtigkeit. Sie lauschen auf das Rascheln des Windes in den Blättern. Ich ziehe mir, wie mehrere andere auch, unwillkürlich meinen Kragen enger um den Hals, als das Geräusch des Regens einsetzt.
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Dabei ist alles nur Klang. Wir sind umgeben von der Klanginstallation von Janet Cardiff und George Bures Miller. Maschinen bahnen sich ihren Weg mitten durch das Gehölz, Gelächter von Spaziergängern dringt an unsere Ohren, bald marschieren Soldaten durch unsere Reihen, es erschallt Kriegsgeheul, Schüsse fallen, Explosionen, schließlich das Donnern eines Flugzeugs, das lange Pfeifen einer Bombe, eine enorme Explosion. Dann klingt wunderbarer Gesang durch das Wäldchen. Vögel beginnen zu zwitschern, der Wind streicht wieder durch die Wipfel. Ich stehe auf und gebe Heike Radeck, mit der ich unterwegs bin, zu verstehen, dass ich gehen will. Wir bahnen uns möglichst leise unseren Weg durch die anderen Leute heraus aus dem Wäldchen.
"Die Kunstwerke könnten auch auf einem Kirchentag stehen"
Als wir sicher sein können, dass wir niemanden stören, sagt Heike Radeck zu mir: "Ich war schon einmal hier - an einem Sonntag. Anschließend hatten wir das Gefühl, wir wären in einem Gottesdienst gewesen." Lachend fügt sie hinzu: "Es gibt Leute, die sagen, die vielen Kunstwerke hier in der Karlsaue könnten auch auf einem Kirchentag stehen." Sie ist Spezialistin für die Documenta, denn sie hat sich zur "Worldly Companion" schulen lassen. Sie begleitet Gruppen zu den sogenannten dTOURS über die Documenta, erläutert Hintergründe und vermag es, die Schritte und Sinne derer, die sie über das Gelände führt, in interessante Richtungen zu lenken. Heike Radeck ist Studienleiterin an der Akademie in Hofgeismar, und auch dort liegt einer ihrer Schwerpunkte auf der für bildenden Kunst. Für mich ist sie eine perfekte Gesprächspartnerin, weil sie Pfarrerin ist. Nach den Streitigkeiten zwischen der Chefkuratorin Carolyn Christov-Bakargiev und der Kirche in Kassel vor der Documenta (13) wollen wir schauen, welche Formen von Religiosität uns hier begegnen.
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Bereits der erste Eindruck im Friedericianum lässt das Herz des Theologen höher schlagen. Der große Raum, den wir betreten, erscheint leer. Doch kaum eingetreten, spüre ich, dass hier ein sanfter Wind geht. "Angenehm" ist das erste Wort, das ich sage, und mir wird bewusst, dass der Raum eben nicht leer ist, sondern voller Luft. Luft, die ich ohne den Wind glatt "übersehen" hätte. Ich ertappe mich bei dem sehnsuchtsvollen Gedanken, hier einmal mit einer Gruppe von Konfirmanden hindurchzugehen und mit ihnen über die Gegenwart Gottes zu sprechen. Dafür hat Ryan Gander diesen Raum nicht erdacht, doch ich merke auf unserem Rundgang immer wieder, wie mir ähnliche Gedanken kommen. Es sind nicht in erster Linie die Werke, die entsprechende Titel tragen oder mit explizit religiösen Merkmalen daherkommen, die mich in einem spirituellen oder theologischen Sinne anregen.
Litaneien aus Metall
Die betenden Motoren von Thomas Bayrle sind durchaus faszinierend. Litaneien aus Metall, Mantras aus immer gleichen Bewegungen und Geräuschen, die der Künstler mit Klängen aus Kirchen vermischt. Ich schaue lange zu, höre auf das An- und Abschwellen der Motorengeräusche und erfreue mich an der Gleichmäßigkeit und Eleganz der Bewegungen der Maschinen. Dies ist das einzige Mal, dass sich meine Begleitung nicht so lange an meiner Seite aufhält, bis ich mich "satt gesehen" habe. Sie zieht ohne mich weiter. Als ich sie wieder einhole, frage ich mich kurz, ob ich eben einfach meinem "männlichen" Drang nach schönen Verbrennungsmotoren nachgegangen bin, oder ob ich tatsächlich eine merkwürdig entseelte Litanei erlebt habe.
Heike Radeck erzählt mir von den vier Positionen, die in der Documenta 13 immer wieder vorkommen: Auf der Bühne. Auf dem Rückzug. Unter Belagerung. Im Zustand der Hoffnung. Wieder lässt sich eine Nähe zur Religion erkennen, nicht zuletzt zur Bibel mit ihrer umfassenden Weltsicht. Im Gespräch wird allerdings bald deutlich, dass es wohl die gemeinsame Sicht auf das große Ganze der Welt ist, die diese Nähe zwischen der Documenta und der christlichen Religion suggeriert. Hinzu kommt, dass sich die eigene Wahrnehmung beim Gang über die Documenta verändert. Das Erleben der Kunst macht die Besucher aufmerksam.
Der Mensch steht nicht über allem
Auf der Karlsaue kommen wir an ein großes Holzgerüst, das die Besucher zum Besteigen und Verweilen einlädt. Die Aussichtsplattform ist perfekt gelegen und bietet einen wunderschönen Blick. Dennoch beschleicht mich ein mulmiges Gefühl, und ich beschließe, dort nicht hinauszusteigen. Als ich Heike Radeck darauf anspreche, erklärt sie mir lächelnd, dass mein Unbehagen durchaus berechtigt ist, denn hier handelt es sich um die Nachbildung eines Schafotts von Sam Durant. Der Künstler bringt tatsächlich ein Ausflugsziel und eine Hinrichtungsstätte zusammen.
Die Documenta bietet einen besonderen Blick auf die Welt, weil ihr Konzept von einer Sicht aufgeht, in der nicht der Mensch im Mittelpunkt steht. Während unseres Spaziergangs wird mir deutlich, warum sich Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev so heftig gegen die Aufstellung einer alles überragenden Menschenskulptur auf dem Kirchturm gegenüber dem Friedericianum gewehrt hat. Wer die Welt einmal ganz begreifen will, sollte nicht den Menschen über alles stellen.
Platz genug ist für den Menschen auf der Documenta durchaus. Und wie wir feststellen konnten, ist auch eine Menge Platz für Religion und Gott – wenn man die denn finden möchte. Die Documenta 13 ist noch bis zum 16. September geöffnet. Ich werde bestimmt noch einige Spaziergänge dort machen und empfehle allen, die Lust auf überraschende Blicke haben, dringend einen Besuch – nicht zuletzt der Karlsaue. Dort immer wieder neue Exponate zu entdecken ist – mit den Worten von Heike Radeck – "wie die Suche nach Ostereiern."