Die Welt verändert sich rasend schnell - mit neuen Medien, globaler Finanzkrise, demografischem Wandel, ökologischen Herausforderungen. Wie aber verändern sich die Werte, nach denen Menschen leben? Dieser Frage geht ein 637 Seiten dicker Sammelband nach, in dem Experten aus Politik, Wissenschaft und Kirche ihre Gedanken zum "guten Handeln" ausbreiten. Am Mittwochabend wurde das Buch in Stuttgart vorgestellt.
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Der katholische Philosoph Robert Spaemann geht in seinem Beitrag der Frage nach, ob Europa eine "Wertegemeinschaft" ist. Er hält von einer solchen Sichtweise nicht viel. Der Philosoph bürstet das Werteverständnis gegen den Strich - mit dem Hinweis, dass ausgerechnet die Nationalsozialisten die Volksgemeinschaft als Wertegemeinschaft verstehen wollten und mit dieser Begründung geltendes Recht ignoriert hätten. Auch wenn die Werte der Nazis selbstverständlich andere gewesen seien als die heute propagierten - die europäische Identität nach wandelbaren Werten auszurichten, hält Spaemann für gefährlich. Er bezweifelt auch, dass Toleranz der höchste Wert in Europa sein kann. "Toleranz ist immer Tolerierung von Überzeugungen, die der Tolerierende für falsch hält." Wichtiger als die europäische Wertegemeinschaft sei deshalb eine europäische Rechtsordnung.
Schneider: Jesus ist wichtiger als Werte
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Nikolaus Schneider, wehrt sich gegen ein Verständnis, das die Kirche als "Werte-Instanz" begreift. Werte seien zweitrangig - viel wichtiger sei, dass Menschen ihr Leben an Gott und Jesus Christus bänden. Deshalb wolle sich die Kirche auch nicht als "Hüterin und Bewahrerin" tradierter moralischer Wertmaßstäbe erweisen. Als Werterahmen für christliches Handeln sieht Schneider die Bereiche Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
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Der frühere tschechische Präsident Václav Havel (1936-2011) nimmt Politiker in die Pflicht, sich nicht nur durch populäre Entscheidungen oder fernsehgerechtes Auftreten beliebt machen zu wollen. "Auch wenn es utopisch klingen mag: Politiker tragen eine immense Verantwortung für das Weiterbestehen unseres Planeten", schreibt er den Volksvertretern ins Stammbuch. Für mehr Bürgerbeteiligung spricht sich der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) aus: "Nicht wo Menschen sich einmischen, ist die Demokratie bedroht, sondern dort, wo sie sich abwenden von den öffentlichen Angelegenheiten, von der 'res publica'."
Gutes Leben und gute Arbeit
IG-Metall-Chef Berthold Huber fordert als Leitwerte Solidarität, gutes Leben und gute Arbeit. Die massive Einführung von Leiharbeit zum Lohndumping habe eine Art Apartheidssystem in der Arbeitswelt geschaffen. Der Schuheinzelhändler Heinrich Deichmann erläutert das christliche Leitbild seines Unternehmens. So verzichte das Unternehmen auf geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, biete Mitarbeitern eine "Gesundheitswoche" und eine Unterstützungskasse, poche bei Zulieferern auf soziale und ökologische Mindeststandards und unterstütze mit seinem Hilfswerk "wortundtat" weltweit 120.000 Menschen.
Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg beschreibt in alarmistischen Thesen den demografischen Niedergang der Deutschen, weil beispielsweise die Kinder, die die Staatskredite von heute zurückzahlen müssten, nicht mehr geboren würden. Ausgedünnte Landschaften insbesondere im Osten Deutschlands und der Zusammenbruch der Sozialsysteme würden zu einem erheblich schlechteren Leben führen. Als Gegenmaßnahmen fordert Birg eine finanzielle Besserstellung von Familien, den Vorrang für Eltern bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, Mütterquoten in Betrieben und ein Familienwahlrecht, bei dem Eltern für jedes nicht volljährige Kind zusätzlich eine Stimme abgeben können.