Kyrill Kratow ist zum ersten Mal in Warschau. Der 45-jährige Fußballfan aus Moskau trägt das Trikot der russischen Nationalmannschaft, und er spricht nur russisch. "Sehr nett, sehr herzlich sind die Polen", findet der Russe. Die Polen hätten ihm in Warschau freundlich den Weg zum Sowjet-Denkmal gezeigt, das die Rote Armee als Befreier Warschaus feiert.
Kratow freut sich auf das Vorrundenspiel bei der Fußball-Europameisterschaft zwischen Polen gegen Russland. Das Match, das am Dienstagabend in Warschau ausgetragen wird, wird in Polen mit Spannung erwartet. Beim Aufeinandertreffen der beiden Mannschaften spielt nicht nur der Fußball eine Rolle. Die Beziehungen zwischen beiden Ländern gelten als historisch belastet. Polen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Wende 1989 von der Politik Moskaus dominiert.
Flugblätter vor dem Präsidentenpalast
Die an Konflikten reiche Geschichte spiegelt sich denn auch vor dem EM-Spiel in den polnischen Medien wider: Polens Nationaltrainer Francisek Smuda ziert als Marschall Jozef Pilsudski verkleidet die Titelblätter der Zeitungen. Der polnische Heerführer wehrte 1920 erfolgreich den Angriff der Roten Armee auf Warschau ab.
Doch auch die andere Seite arbeitet mit historischer Symbolik: Die EM-Begegnung findet am russischen Nationalfeiertag (12. Juni) statt, und die russischen Fußballfans wollen diesen mit einer Kundgebung in Warschau feiern. Die Warschauer Stadtverwaltung gab einem entsprechenden Antrag statt. Die Behörden rechnen mit mehreren Tausend Teilnehmern, auch die Polizei ist vorbereitet.
Bei vielen Polen stößt die Veranstaltung auf Missfallen. "Die Flagge sollen die bei sich selber ehren", empört sich etwa Stanislaw Ciosek, ehemaliger Botschafter Polens in Moskau und Linkspolitiker. Vor allem aber die polnischen Nationalkonservativen um die Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) sind dagegen. "Wir befürchten, dass sie sowjetische Symbole zeigen", sagt Karolina Bielawska. Die junge Anhängerin der Partei verteilt vor dem Präsidentenpalast Flugblätter.
"Unser Präsident, ermordet in Russland"
Zuvor hat PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski vor etwa 2.000 Anhängern gesprochen. Jeden 10. im Monat gedenkt er vor dem Präsidentenpalast seines bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen Bruders Lech, so auch am vergangenen Sonntag. Der Ex-Ministerpräsident ist wie seine Anhänger fest davon überzeugt, dass der damalige Staatspräsident Lech Kaczynski am 10. April 2010 nicht durch einen Pilotenfehler ums Leben kam, sondern dass Moskau die Maschine manipuliert habe. Beim Flugzeugabsturz in Smolensk starben 96 Menschen.
"Unser Präsident, ermordet in Russland", steht in englischer Sprache auf Plakaten. Einige der Kaczynski-Anhänger wollen sich so auch vor dem Stadion in der Hauptstadt positionieren. Vor dem Spiel gab es Bemühungen, die Wogen zu glätten. Die Stadt Warschau veranlasste Russlandtage in Schulen und Kindergärten. Delegierte der russischen Nationalmannschaft legten am Sonntag Blumen vor einer Smolensk-Erinnerungstafel nieder.
Pawel Litwinow, russischer Student in Warschau und Organisator russischer Partys, kann die Aufregung in Polen nicht verstehen: "Selbstverständlich sollen wir unseren Feiertag zelebrieren können, ich habe keine Angst, wir sind ja viele." Auch Kyrill Kratow wird mitmarschieren. Allerdings geben ihm einige Polen zu denken, die ihn nach ein paar Wodkas auf einer Party gefragt haben, warum die Russen denn Lech Kaczynski ermordet haben.