Dies sei auch ein Grund, warum es in Deutschland trotz Finanz- und Wirtschaftskrise bislang zu keinen nennenswerten Protesten gekommen sei. "In einer durch und durch individualisierten Gesellschaft entsteht dafür kein Bewusstsein mehr", so Heitmeyer. Es sei "hochproblematisch", wenn eine erhebliche Anzahl der Menschen die Kernnormen, die eine Gesellschaft zusammenhalten - Gerechtigkeit, Fairness, Solidarität -, inzwischen für nicht mehr realisierbar halte, betonte der Soziologe. Heitmeyer forscht seit Jahren im Zuge der Langzeitstudie "Deutsche Zustände" unter anderem über die Haltung der Deutschen zu Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Dabei stellte sich heraus, dass mit der Krise auch Hass und Gewaltbereitschaft zugenommen haben.
Heitmeyer sieht im vierten Jahr der Finanzkrise eine "fortschreitende Demokratie-Entleerung". Ein wenn auch oberflächlicher Indikator dafür sei die geringe Wahlbeteiligung. "Eigentlich müssten die politischen Eliten eine Debatte darüber anstoßen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Das werden sie aber tunlichst vermeiden", so Heitmeyer. Zum einen seien die Eliten "nicht mehr unbedingt Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Zweitens haben Eliten bis in die politische Führung selbst keine Idee, wie die Gesellschaft künftig aussehen soll."
Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche bis hin zur Familie werde ja wesentlich von Eliten durch die Unterstützung eines autoritären Kapitalismus vorangetrieben, so der Bielefelder Soziologe. Heitmeyer bezeichnete die massiven Polizeieinsätze gegen die Occupy-Bewegung gerade in den USA als "martialische Kontrolldrohung". "Das ist die praktizierte staatliche Verlängerung des autoritären Kapitalismus", sagte der Soziologe.