Sexualisierte Gewalt in der Kirche muss laut Expertenmeinung schneller und konsequenter aufgearbeitet werden. Dass sexualisierte Gewalt in der Kirche ein Thema sei, sei seit vielen Jahren bekannt, sagte der Jurist Martin Pusch am Montag bei einer Fachtagung in der Evangelischen Akademie Tutzing mit Blick auf den Beginn des Missbrauchsskandals im Canisius-Kolleg in Berlin vor 15 Jahren. Pusch arbeitet für die Anwaltskanzlei "Westpfahl Spilker Wastl", die unter anderem für das Erzbistum München das 2022 veröffentlichte Missbrauchsgutachten erarbeitet hatte.
Die Grünen-Landtagsabgeordnete und religionspolitische Sprecherin Gabriele Triebel forderte eine stärkere Einmischung des Staates und eine unabhängige Aufarbeitungskommission. Das gebiete das Grundgesetz, denn es gehe hier um ein institutionelles Versagen. Diverse kirchliche Missbrauchsstudien besagten außerdem, dass die Dunkelziffer hoch sei. Dazu komme: "Eine Täterorganisation kann sich nicht selbst aufarbeiten. Jeder Geruch der Befangenheit schadet der Kirche", betonte Triebel. Wenn es hingegen eine schonungslose Aufklärung gebe, dann würden die Kirchen in der Gesellschaft wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen.
"Ein Prozess, der nicht enden wird"
Die Leiterin der Fachstelle für den Umgang mit sexualisierter Gewalt in der bayerischen Landeskirche, Martina Frohmader, sagte, dass es im Aufarbeitungsprozess nach der ForuM-Studie einen zentralen Maßnahmenkatalog der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) geben werde. Dieser solle dann auf die einzelnen Landeskirchen übertragen werden. "Es ist ein Prozess, der nicht enden wird." Sie räumte ein, dass es hier ein Dilemma gebe. Auf der einen Seite müssten die Landeskirchen die EKD-weiten Beschlüsse abwarten, auf der anderen Seite stehe die Erwartung der Betroffenen und der Öffentlichkeit nach sofortigen Lösungen.
Für die vor fast genau einem Jahr veröffentliche ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie wurden für die Zeit ab 1946 mindestens 1.259 Beschuldigte, darunter 511 Pfarrpersonen, und mindestens 2.225 Betroffene ermittelt. Als begünstigenden Faktor für sexualisierte Gewalt nannte das unabhängige Forscherteam unter anderem die kirchlichen Machtstrukturen.
Macht werde "vollkommen unterschätzt"
Das Phänomen "Macht" werde in der Kirche oft "vollkommen unterschätzt und manchmal sogar verdrängt", sagte auch der bayerische evangelische Landesbischof Christian Kopp. Macht sei zwar nicht per se negativ. Sie bewirke, gut angewandt, jeden Tag enorm viel Gutes. Aber: "Wer blind ist gegenüber unangemessener Machtausübung, schafft Voraussetzungen für Missbrauch." Daher brauche Macht klare Grenzen und müsse kontrolliert werden.
Die Missbrauchsbetroffene Karin Krapp, die auch Mitglied des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt (BeFo) der EKD ist, sagte, dass sie sich eine Solidarisierung wünsche wie in Frankreich mit dem Missbrauchsopfer Gisèle Pelicot. Nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie habe es keine Solidarisierung mit den Betroffenen gegeben. Bis heute würden sie von kirchlicher Seite immer noch als die "Anderen" gesehen.
Auch der Weg hin zu Anerkennungsleistungen sei schwierig und frustrierend, sagte Krapp und betonte, dass Geld als Lebensgrundlage für die Betroffenen wichtig sei. Ein Gast im Publikum sagte, dass viele Betroffene wegen erlittener Traumata nicht oder nur eingeschränkt arbeiten könnten. Vielen fehle das Geld, um zum Beispiel ihre Miete zu zahlen. Die Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing stand unter dem Thema "Die verdammte Macht".