Gedenkstätten-Leiter: Ideen aus NS-Widerstand haben lange fortgewirkt

Gedenkstätten-Leiter: Ideen aus NS-Widerstand haben lange fortgewirkt
15.01.2025
epd
epd-Gespräch: Michael Grau

Berlin, Hannover (epd). Die Ideen der NS-Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“ haben aus Sicht des Politikwissenschaftlers Johannes Tuchel im Nachkriegsdeutschland noch lange fortgewirkt. Die Wiederherstellung des Rechtsstaates nach der nationalsozialistischen Diktatur sei ein „ganz eindeutiges Erbe“ der Kreisauer, sagte Tuchel dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit Blick auf die Ermordung von Helmuth James von Moltke und weiterer Mitglieder des oppositionellen Zirkels vor 80 Jahren, am 23. Januar 1945. „Auch bei der Integration des demokratischen Deutschland in Europa können Sie Kreisauer Gedanken wiederfinden.“ Der Professor leitet die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.

„Mitwirkung, Verantwortung und die Aufforderung zum eigenständigen politischen Handeln gehören zum Erbe der Kreisauer“, erklärte er. Der „Kreisauer Kreis“ zählte laut Tuchel zu den wichtigsten Gruppen im Widerstand gegen Hitler.

Führende Köpfe waren der Gutsbesitzer Helmuth James von Moltke und sein Freund Peter Yorck von Wartenburg. Sie trafen sich ab 1940 mit rund 20 bis 30 Gleichgesinnten auf Moltkes schlesischem Gut Kreisau (heute Krzyzowa) rund 60 Kilometer südwestlich von Breslau (Wroclaw) sowie in kleineren Gruppen auch in Berlin und München, um Konzepte für ein anderes Deutschland nach dem Ende des Hitler-Regimes zu entwickeln. Zu dem Kreis zählten Sozialdemokraten, Konservative, Adelige und Theologen, unter ihnen auch Alfred Delp, Julius Leber und Adolf Reichwein. Viele von ihnen wurden 1944 und 1945 hingerichtet.

„Moltke und seine Freunde haben ein Gegenbild zur totalitären Struktur des Nationalsozialismus entworfen“, sagte Tuchel. „Damit man sehen konnte, dass eben nicht alle Deutschen bereit waren, Hitler bedingungslos zu folgen.“ Die Kreisauer hätten auch schon ins Auge gefasst, dass die Deutschen selbst bei der Verurteilung der nationalsozialistischen Gewaltverbrecher mitwirken sollten.

Dennoch ließen sich die Kreisauer nicht als Vordenker eines demokratischen Deutschland im heutigen Sinne bezeichnen, sagte Tuchel. Denn die Bundesrepublik gründe sich auf den Parlamentarismus. Bei den Kreisauern habe jedoch keine Einigkeit darüber bestanden, welche Rolle die Parteien in einem Deutschland nach Hitler spielen sollten. „Gegenüber dem Parlamentarismus der Weimarer Republik hatten sie durchaus große Skepsis.“

Eine große Rolle habe das Christentum bei den Kreisauern gespielt. „Es ging um ein Konzept, das die Bildung auf christliche Grundlagen stellen sollte“, sagte der Politikwissenschaftler: „Der Wert christlicher Überlegungen kann für den Kreisauer Kreis gar nicht überschätzt werden.“