"Politische Verhandlungsmasse" durch Rüstung

"Politische Verhandlungsmasse" durch Rüstung
Der Politologe Sascha Hach zur Stationierung von Mittelstreckenwaffen
31.12.2024
epd
epd-Gespräch: Nils Sandrisser (epd)

Frankfurt a.M. (epd). Ab 2026 wollen die USA in Deutschland Mittelstreckenwaffen stationieren, um Russland abzuschrecken. Der Politologe Sascha Hach vom Peace Research Institute Frankfurt sieht darin eine maßvolle Reaktion auf Russlands Aggression, bemängelt im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) aber zugleich, dass neben der Rüstung die Diplomatie nicht mitbedacht werde, ebenso wenig wie Risiken, die sich aus der Stationierung ergeben.

epd: Herr Hach, die Zeichen stehen auf Wiederaufrüstung, um Russland abzuschrecken. Eine kooperative Rüstungszusammenarbeit sei gescheitert, heißt es oft. Sehen Sie das auch so?

Sascha Hach: Nein. Rüstungskontrolle und Eskalationsmanagement basieren auf gemeinsamen Interessen, weniger auf Idealen oder Werten, die viele vielleicht mit Kooperation verbinden. Das lässt sich sogar im Ukraine-Krieg beobachten. Beispielsweise beim jüngsten Angriff der Russen mit einer ballistischen Mittelstreckenrakete auf Dnipro: Der wurde vorher über einen informellen Kanal angekündigt, damit die USA ihn nicht missverstehen als einen interkontinentalen ballistischen Angriff. Russland und die USA haben immer wieder solche Kanäle genutzt, um Eskalationsrisiken durch Fehlinterpretationen zu minimieren, und das ist ja auch eine Form von Kooperation.

epd: Was genau will die Nato denn mit der Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenwaffen erreichen? Geht es darum, die Kosten eines möglichen Angriffs für Russland zu erhöhen?

Hach: Russland ist seit mehreren Jahren der Nato konventionell unterlegen und baut deshalb seit längerem seine nuklearen Fähigkeiten aus. Das betrifft insbesondere die nuklearfähigen Trägersysteme, die auf den europäischen Kontinent abzielen, also bodengestützte Raketen und Marschflugkörper mittlerer Reichweite. Die stationiert Russland nun auch in Belarus. Es hat auch seine Nukleardoktrin verschärft. Sie ist insofern aggressiver, als die Hemmschwelle für einen Nuklearschlag abgesenkt wurde. Insgesamt hat das alles die nukleare Bedrohung durch Russland extrem erhöht, und um dieser Bedrohung etwas entgegenzusetzen, fiel die Entscheidung, bodengestützte US-amerikanische Mittelstreckenwaffen in Deutschland zu stationieren.

epd: Bei der Abschreckung beruft man sich häufig auf die Erfahrungen des Kalten Kriegs. Doch das heutige Russland ist ja ein anderes Land als die UdSSR. Unter Wladimir Putin herrscht willkürliche Gewalt viel unmittelbarer als zu Sowjetzeiten, Beobachter vergleichen das Land mit einer Mafia. Beim Überfall auf die Ukraine wurde auch deutlich, dass das Land einer ganz anderen Rationalität folgt als zuvor gedacht. Lässt sich Russland denn überhaupt so abschrecken wie die alte UdSSR?

Hach: Abschreckung setzt voraus, dass man über bestimmte Bedingungen ein gleiches Verständnis hat, dass der Gegner also berechenbar ist. Generell ist Abschreckung etwas, das auf die Annahme einer Rationalität aufbaut, auf die man sich nur bis zu einer gewissen Grenze verlassen kann. Ich denke aber schon, dass es im Interesse Russlands ist, dass der Ukraine-Krieg nicht so eskaliert, dass die Nato involviert wird, und insbesondere, dass er nicht nuklear eskaliert. Das hat nicht zuletzt dank der nuklearen Zurückhaltung des Westens funktioniert, und dafür brauchte es diese zusätzlichen Raketen und Marschflugkörper nicht.

Wir sehen auch, dass Russland bemüht ist, dass der Krieg nicht über die Grenze der Ukraine hinausgeht. Man kann also auf diese Handlungslogik und die Interessensorientiertheit Russlands bis zu einem bestimmten Maß setzen.

Man kann natürlich auch die konventionelle Abschreckungslogik zusätzlich zur nuklearen hinzunehmen. Beispiel: Als die USA nach der russischen Annexion der besetzten Gebiete in der Ukraine das Risiko eines Nuklearwaffeneinsatzes als hoch einschätzten, hat US-Präsident Joe Biden bilaterale Kontakte genutzt, um mit dem direkten Kriegseintritt der USA zu drohen. Im Fall eines Atomschlags wollten die USA russische Abschussbasen der Nuklearwaffen konventionell beschießen. Ich denke schon, dass solche Drohungen, solange sie ernsthaft kommuniziert werden und mit glaubhaften Fähigkeiten hinterlegt sind, eine Wirkung haben.

Zugleich hat man damals auch kooperative Elemente genutzt und mit Russland befreundete Staaten wie China zur diplomatischen Einhegung eingebunden. Der beste Weg, mit so einem Staat wie Russland umzugehen, der eine ganz andere Agenda verfolgt und zum Teil überraschend agiert, ist es, alle Register in gutem Maß zu ziehen, also Diplomatie wie auch Abschreckung.

epd: Und die Stationierung der US-Mittelstreckenwaffen soll die Glaubwürdigkeit der eigenen Fähigkeiten unterstreichen, um kooperative Elemente überhaupt noch ausspielen zu können?

Hach: Das kann man so deuten. Die Stationierung ist einerseits maßvoll, weil sie nicht die gleichen Fähigkeiten aufbaut wie auf russischer Seite. Das Interessante ist, dass anders als bei der Nachrüstung im Kalten Krieg ab 1979 die Vereinbarung zur Stationierung nicht mit dem politischen Angebot verbunden wurde, über die Waffen zu verhandeln. Aber gleichzeitig hat man dadurch, dass die Stationierung nur angekündigt wurde und erst ab 2026 erfolgen soll, ein Fenster offen gelassen.

Darauf hat Russland ähnlich reagiert - auch mit der Ankündigung einer Stationierung bodengestützter Mittelstreckenraketen entlang der russischen Grenze. Das alles hat also eine politische Verhandlungsmasse geschaffen, die auch genutzt werden kann und sollte.

epd: Wenn es der Ansatz sein sollte, sich diese Waffen wieder abverhandeln zu lassen, stellt sich allerdings die Frage, was Vereinbarungen mit Russland wert sind. Die Ukrainer haben da ja sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Immerhin hatte Russland 1994 die Grenzen der Ukraine garantiert und 1997 zugestimmt, dass alle Länder ihr Bündnis frei wählen dürfen. Diese Zusagen gelten nicht mehr. Kann man den kooperativen Ansatz vielleicht erst ab einer Zeit nach Putin anwenden?

Hach: Grundsätzlich kann man sich am meisten auf Vereinbarungen verlassen, die sicher im Interesse des anderen Staates sind. In diesem Sinne ist Empathie mit dem Feind eine wichtige strategische Fähigkeit. Die eigentliche Herausforderung ist, dass man in diesem Fall auch die ukrainischen und europäischen Sicherheitsinteressen berücksichtigen muss. Die Findung von tragfähigen Interessenschnittmengen und Kompromissen erfordert daher höchste Verhandlungskompetenz und Kreativität.

epd: Gegner der Stationierung führen ins Feld, dass man von Russland mehr Kooperation erreicht, wenn man auf die Mittelstreckenwaffen verzichtet.

Hach: Dieser These kann ich nichts abgewinnen. Ich denke schon, dass man in der derzeitigen Situation die eigene Abschreckung aufrechterhalten und gegebenenfalls anpassen muss. Wichtig ist aber, dass man gleichzeitig die Diplomatie mitdenkt, fördert und vorbereitet. Hier sehe ich tatsächlich ein Problem in der deutschen Debatte, denn die politischen Chancen durch die geplante Stationierung sind bislang kaum mitdiskutiert worden.

Auch eine Risikoabwägung sehe ich nicht. Es ist nicht in deutschem oder europäischem Interesse, dass die vermehrte Stationierung von US-Mittelstreckenfähigkeiten zu einem Rüstungswettlauf führt, bei dem die Europäer irgendwann nicht mehr mithalten können.

Denn die USA wollen ja langfristig ihren Schwerpunkt aus Europa wegverlagern. Und jetzt haben wir auch bald einen US-Präsidenten, bei dem gar nicht mehr klar ist, ob diese Systeme tatsächlich hier stationiert werden.

Im schlimmsten Szenario aber würden rein US-kontrollierte Mittelstrecken-Fähigkeiten aufgebaut, und Washington stimmt sich über deren Verwendung nicht mehr ausreichend mit uns ab. Im Falle einer plötzlichen Rivalität zwischen Donald Trump und Wladimir Putin würden wir zum geopolitischen Spielball und potenziellen Schlachtfeld eines Stellvertreterkriegs zwischen den USA und Russland. Das alles sind Risiken, die ich in der sicherheitspolitischen und öffentlichen Debatte in Deutschland für unzureichend beachtet halte.