Düsseldorf (epd). Der Osteuropa-Historiker und Russland-Experte Karl Schlögel warnt vor einer wachsenden Kriegsgefahr in Europa. „Wir befinden uns in einer Vorkriegssituation, die, ohne in eine Analogie zu verfallen, viel mit den 1930er Jahren zu tun hat“, sagte Schlögel der in Düsseldorf erscheinenden „Rheinischen Post“ (Montag). Auch damals habe sich etwas aufgebaut, was die Menschen in der Weimarer Republik wohl ahnen, aber noch nicht so genau abschätzen konnten.
„Die Frage ist doch, ob wir aktuell den Gefahren ins Auge schauen oder ob wir einknicken und kapitulieren werden“, erklärte der Wissenschaftler mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sowie das Erstarken rechtsextremer und populistischer Parteien. Schlögel, der am 25. November in Düsseldorf den mit 100.000 Euro dotierten Preis der Gerda-Henkel-Stiftung erhält, bezeichnete die aktuelle Situation als „Ernstfall“ und „harte Prüfung“.
Nach seinen Worten ist es völlig offen, wie Europa sich behaupten werde. „Es gibt durchaus Symptome dafür, dass es viel stärker ist, als es derzeit erscheint“, sagte der 76-Jährige. Er könne sich zudem nicht vorstellen, dass Donald Trump in seiner zweiten Amtszeit als US-Präsident die Ukraine fallen lassen werde. „Das wäre eine Preisgabe all dessen, wofür Amerika steht.“
Auf Deutschland und ganz Europa kommt nach Ansicht Schlögels eine Neuverteilung der Lasten zu. „Amerika wird nicht mehr allein die Bürde der Verteidigung des Westens und der Unterstützung für die Ukraine tragen“, so der Historiker. Das sei wenig überraschend, sondern letztlich eine Situation, auf die man sich schon viel früher hätte einstellen können. Schlögel war von 1995 bis 2013 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Davor lehrte er an der Universität Konstanz.
Für Schlögel ist der Aufstieg von Populisten in Europa wie Viktor Orban in Ungarn oder den deutschen Politikerinnen Alice Weigel (AfD) und Sahra Wagenknecht (BSW) ein sehr ernst zu nehmendes Symptom: „Wenn der Wille der Wähler zu einem Erstarken der Demagogen und Polarisierer auf der linken oder auch rechten Seite führt, dann bedeutet das, dass an der Funktionsweise der Demokratie irgendetwas nicht stimmt.“
Die Gerda Henkel Stiftung vergibt den Preis für herausragende Forschungsleistungen seit 2006 alle zwei Jahre an exzellente und international anerkannte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Zuletzt hatte die US-Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston die Auszeichnung 2022 erhalten.