Liebe Gemeinde!
Auf staubigen, dreckigen Straßen liegen Menschen, die ohne Schutz und ohne Obdach leben. Angst haben. Misstrauisch sind, weil sie Sicherheit nicht kennen. Ich erinnere mich an die Reise im Oktober zur Partnerkirche in Brasilien. Was tägliche Unsicherheit und Schutzlosigkeit bedeuten, habe ich in den Straßen von Rio de Janeiro und Sao Paolo kennengelernt. Nur wenige Meter entfernt wohnen die anderen, die sich und ihr Leben mit Stacheldraht sichern. So nah wie in Brasilien habe ich schutzlose Menschen und hoch abgesicherte Einwohner noch nie gesehen. Es beschäftigt mich. Und ich habe es von unseren Partnern dort gehört: Unsicherheit, Misstrauen. Die Angst überfallen zu werden. Das macht Menschen mürbe. Das Herz sehnt sich nach Vertrauen und Schutz.
Geschützt sein innen und außen. Ich glaube, diesen Wunsch haben alle Menschen. Ich bin ratlos, aber ich verzweifle nicht. Ich werde zu Boden geworfen, aber ich gehe nicht zugrunde. Es ist unsicher und zerbrechlich, aber ich vertraue auf Gottes Kraft.
Am Boden fühlen sich gerade viele Menschen, die weltweit auf der Flucht sind. Aber in Europa werden zurzeit harte Grenzen gezogen im Bereich der Migration und der Flucht. Auch in der Sprache. Es reicht. "Close the boarders."
Wie in Brasilien denken viele, nur noch riesige Sicherheitszäune helfen. Ich frage mich: Wie kommt es, dass Menschen so hart geworden sind, ungeübt in Mitgefühl? Wo ist die Empathie geblieben? Es ist viel Angst unterwegs. Ich steige ab in meinem Lebensstil. Ich komme nicht mehr mit. Ich bleibe allein. Angst, Angst, Angst. Und Angstmacherei. Aus ihr entsteht Angst vor den Fremden, die nicht von hier sind.
Christian Kopp ist seit dem 30. März 2023 Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Er studierte evangelische Theologie in München, Erlangen, Bern und Tübingen. Nach Vikariat und Ordination arbeitete er als Hochschul-, Gemeindepfarrer und Dekan in Nürnberg und war Studienleiter der Evang.-Luth. Gemeindeakademie. 2019 wurde er Oberkirchenrat im Kirchenkreis München.
Wir sind mittendrin in aufgeregten Debatten über Flucht und Asyl. Über Menschenrechte und ein Zuviel an Zuwanderung. Da werden sehr seltsame Vergleiche gezogen. Vorurteile gegenüber Fremden werden geradezu gezüchtet. Es ist viel Angst im Spiel. Mir helfen Fakten. Deutschland ist seit Jahrhunderten ein Land der Zuwanderung. Deutschland lebt von der Zuwanderung von Menschen. Sie packen in unzähligen Berufen mit an. Wir würden das alles aus eigener Kraft gar nicht mehr schaffen. Wir brauchen Zuwanderung auch für unsere Volkswirtschaft. Und das muss getrennt werden vom individuellen Recht auf Asyl. Ich mache mir immer bewusst, dass ich selbst in eine Situation kommen könnte, wo ich fliehen muss. Wenn ich Berichte aus Nordisrael oder dem Südlibanon höre, wo Menschen fliehen müssen – ich stelle mir vor, wie es mir dann ginge. Das hilft mir bei diesen Fragestellungen.
Die Angst vor dem Fremden ist im Gehirn in den Urängsten zu Hause. In diesem Teil unseres Gehirns ist die Vernunft nur ein Zaungast. Das macht es so gefährlich.
"Vertrauen wächst, wenn die Fremdheit weicht"
Nur Vertrauen heilt Angst. Vertrauen wächst, wenn die Fremdheit weicht. Vertrauen kann ein Schutz-Raum sein für mich. Das habe ich bei unserer Partnerkirche in Brasilien gesehen. Ich habe Projekte gesehen, die den Unterschied machen. Eine Gemeinde, die seit 25 Jahren obdachlosen Menschen Essen gibt und geistliche Nahrung. Dreimal die Woche eine Mini-Andacht und dann ein kleiner Lunch. Die Menschen brauchen das. Sie haben damit Schritt für Schritt Vertrauen aufgebaut. Vor meiner Reise haben die einen gesagt: Oh, Brasilien, freu dich, wunderbares Land. Die anderen haben gesagt: Pass bloß auf, dass Du nicht überfallen wirst. Unsere Delegation wurde dort wunderschön empfangen – herzlich, freundlich, Umarmungen. Wie schön, dass Ihr da seid. Die Brasilianer können auch viel über sich selbst lachen. Und wir mit ihnen auch über uns.
Ich glaube, wir brauchen viele solche Begegnungen. Viel Kontakt untereinander. Zuhören. Da sein. Wahrnehmen. Erstmal verstehen, bevor wir reden und tun. Nur Kontakt bricht Vorurteile auf.
Es braucht Foren, auf denen Meinungen ausgetauscht werden. Auch kontroverse Meinungen. Kirche kann, Kirche muss ein Ort für diese Dialoge sein. Wir müssen zuhören. Es gibt viele Missverständnisse über die Evangelische Kirche. Auch wie wir als Kirche zum Thema Flucht und Migration stehen.
Wir sind total verschieden innerhalb der Kirche. Wir sehen verschieden aus. Wir denken unterschiedlich. Das macht das Ganze so interessant. Es gibt nicht die eine Lösung. Ich vertraue auf Gottes Liebe, auf seinen Schutz, auf seine Kraft, die Menschen zu Menschen macht. Mit Respekt. Mit Aufmerksamkeit. Ich setze da meine Hoffnung hinein. Ich erlebe das jeden Tag. Menschen, die sich im Namen Gottes einsetzen für andere. Die ein Herz haben, das sich erbarmt. Die sich Mitgefühl nicht ausreden lassen. Und ich finde jeden kleinen Schritt dabei wertvoll.
"Schutz ist ein Grundbedürfnis des Menschen"
Im Grunde brauchen wir alle das Gleiche. Ein Dach über dem Kopf. Etwas zu essen auf dem Tisch. Eine Hand auf der Schulter oder eine freundliche Umarmung: Wird schon wieder gut. Wollsocken und eine Heizung im Winter. Ruhige Nächte und Schlaf ohne Sirenen. Orte, wo wir sicher sein können. Innen und außen.
Schutz ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Geschützt leben. Unsicherheit macht Menschen mürbe. Es braucht mehr Schutz-Beauftragte.
Es braucht mehr Vertrauens-Menschen.
Wir tragen diesen Vertrauens-Schatz in zerbrechlichen Gefäßen. Im Leben ist alles zerbrechlich. Es sind irdene Gefäße, aus Erde gemacht. Unsre Gefühle. Unsere Lebensläufe. Unsere Erfahrungen und Beziehungen. Die sind zerbrechlich. Die sind verletzlich. Vulnerabel sagt man heute gerne. Menschen haben keine Rüstungen um sich. Menschen sind schutzbedürftig. Menschen unterwegs und in der Fremde brauchen besonderen Schutz. Christinnen und Christen finden diesen Schutz in ihrem Glauben. Paulus schreibt: So soll deutlich werden, dass unsere übergroße Kraft von Gott kommt und nicht aus uns selbst. Welch größeren Schutz kann es geben als Gottes Kraft?
Diese Suche nach Schutz sehe ich auch hier in der Kreuzigungsgruppe, die der Künstler Helmut Ammann für St. Stephan in Würzburg gestaltet hat. Maria und Johannes stehen unter dem Kreuz, ängstlich und verzweifelt sehen sie ins Kirchenschiff. Als wollten sie sagen: Helft. Helft uns. Jesus ist weit oben am Kreuz. Ich finde, es sieht fast aus, als wollte Jesus von dort oben die beiden unten schützen. Gar nicht so sehr wie ein leidender Mensch. Ganz gerade die Arme. Als wollte er segnen oder sie gleich umarmen. Ihr Lieben, seid nicht so traurig. Ein Christus, der für die Menschen sorgt. Ein Christus für die Trauernden, die Leidenden, die Verlassenen.
Der gekreuzigte Christus schützt andere. Der das tiefste Dunkel erlebt, lässt unsere Herzen hell werden.
Von diesem Angesicht leuchtet Gottes Licht in uns hinein. In unsere Herzen. Da muss das Licht hinein und das Finstere vertreiben.
Wie ich es bei den Partnern in Brasilien erlebt habe. Kindern einen Raum geben, in dem sie sicher spielen können. Bäume pflanzen, damit sie zum ersten Mal Früchte sehen, weil sie ihr Leben in ansonsten in dunklen Favelas oder Hochhäusern verbringen. Ein tröstendes Wort, eine Umarmung. Ein Lächeln. Ein Zimmer auf Zeit. Es gibt so viele kleine Schritte, die Großes bewirken.
Und ich spreche die Worte aus wie einen Schutz: Ich werde nicht erdrückt. Ich bin ratlos, aber ich verzweifle nicht. In der Dunkelheit leuchtet das Licht. Gott gibt uns Kraft. Er gibt große Kraft. Sie wird reichen.
AMEN