Gericht darf Gutachteraussagen zur Pflege nicht ignorieren

Gericht darf Gutachteraussagen zur Pflege nicht ignorieren

Karlsruhe (epd). Gerichte dürfen ein Gutachten über die Ursachen eines Sturzes einer demenzkranken Patientin in einem Krankenhaus nicht einfach übergehen und stattdessen eine eigene fachliche Bewertung abgeben. Ist bei einem Gericht kein eigener pflegewissenschaftlicher Sachverstand gegeben, kann es allenfalls einen zweiten Sachverständigen für die Begutachtung beauftragen, stellte der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe in einem am Donnerstag veröffentlichten Beschluss klar. (AZ: VI ZR 41/22) Andernfalls werde der Anspruch der Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt, heißt es in der Entscheidung.

Zu klären waren die Umstände, die zum Sturz einer 88-jährigen demenzkranken Frau in einem Krankenhaus führten. Wegen ihrer Altersdemenz bestand bei ihr eine sogenannte Weglauftendenz. Am 16. Februar 2016 war sie im Stationsflur der Klinik nachts gestürzt und erlitt eine Platzwunde und mehrere Brüche an einem Oberarm. Drei Wochen später starb die Frau.

Die Tochter der Frau machte als Erbin Schmerzensgeld und eine Entschädigung geltend. Der Sturz hätte mit geeigneten Maßnahmen vermieden werden können, so ihre Begründung der Klage.

Das Landgericht Saarbrücken holte unter anderem ein pflegewissenschaftliches Gutachten ein. Das kam zu dem Ergebnis, dass der Sturz vermeidbar gewesen wäre. Die Frau sei sehr sturzgefährdet gewesen, zum einen wegen stark schwankender Blutzuckerwerte, die zu Desorientiertheit und Gleichgewichtsschwankungen führen können. Zudem habe sie ein Beruhigungsmittel erhalten, das ebenfalls Gang- und Standunsicherheiten verursachen könne. Eine Überwachung per Videokamera oder der Einsatz einer Sensormatte, die das Weglaufen einer Patientin anzeigt, hätten den Sturz verhindern können, hieß es.

Das Landgericht setzte sich jedoch über das Gutachten hinweg und erklärte, dass eine Sturzproblematik nicht bestanden habe. Auch habe die Seniorin keinen unsicheren Gang oder Schwindelanfälle gezeigt. Das Oberlandesgericht (OLG) Saarbrücken wies die Klage der Erbin ohne Beweisaufnahme ab.

Der BGH gab der eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin jetzt jedoch statt und verwies das Verfahren an das OLG zurück. Der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör sei verletzt worden. Ein Gericht dürfe sich ohne eigene fachliche Sachkenntnis nicht einfach über die Beurteilung des Gutachters hinwegsetzen, befand das Gericht. Zwar könne sich ein Gericht im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu einer eigenen Überzeugung gelangen. Fachkundige Feststellungen dürfe es jedoch ohne entsprechende Qualifikation nicht treffen. Zweifele es Aussagen in einem Gutachten an, könne es allenfalls einen weiteren Sachverständigen beauftragen, so der BGH.