Warum Religionen erst im Mittelalter entstanden

Dorothea Weltecke
Dr. Jürgen Römer
Stellt immer wieder die Machtfrage: die Historikerin Prof. Dorothea Weltecke von der Humboldt Uni legt dar, wie sich Judentum, Christentum und Islam im Mittelalter aneinander abarbeiteten.
Historikerin über Macht und Gesetz
Warum Religionen erst im Mittelalter entstanden
Warum die abrahamitischen Religionen erst im Mittelalter entstanden sind, das thematisiert die Historikerin Dorothea Weltecke in ihren neuen Buch "Die Drei Ringe". Im Gespräch mit evangelisch.de erläutert die Wissenschaftlerin, wie verflochten die drei Traditionen Judentum, Christentum und Islam einst von Osteuropa bis Ostasien waren und wie durchlässig ihr Kultus einst war.

Die Historikerin Dorothea Weltecke hat mehr als zehn Jahre lang an dem Buch über die Geschichte der Religionen im Mittelalter gearbeitet. Nun ist das Werk über diese Entwicklung von Judentum, Christentum und Islam im Mittelalter (500 bis 1500) erschienen. Titel: "Die drei Ringe". Sie blickt auf Zentren der christlichen und der islamischen Herrschaftsgebiete wie Paris, Cordoba, Bagdad oder Kairo, aber auch darüber hinaus bis nach China und Indien, wo damals auch viele Christen lebten. Ihre These: Die Religionen, wie wir sie heute kennen, sind erst allmählich im Lauf des Mittelalters entstanden.  

evangelisch.de: Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen? 

Dorothea Weltecke: Bei meiner Untersuchung über Unglauben und Glaubenszweifel im Mittelalter bin ich auf die Frage gestoßen, wie Menschen eigentlich mit der Tatsache umgingen, dass es rivalisierende Glaubenslehren gab. Hat sie das verunsichert? Konnte man immer so sicher sein, im richtigen Boot zu sitzen? Es gab ja religiöse Disputationen, nicht nur zwischen Gelehrten, sondern auch zwischen gewöhnlichen Laien. 

Können Sie ein Beispiel nennen?

Weltecke: An der Universität Paris wurde im 13. Jahrhundert zum Beispiel rational die Frage erörtert, ob nicht jeder in seinem Glauben selig werden könne, weil man sich ja schließlich um richtigen Kult und frommes Verhalten bemüht habe. In einer kleinen Schrift dazu kommt der franziskanische Autor wie erwartet dazu, dass dies nicht der Fall sei. Aber die Frage stellte sich offensichtlich, und er konnte auch einige gute Argumente dafür anführen, wie das in der scholastischen Disputation üblich war. 

Seite aus der Darmstädter Haggada, einer Sammlung biblischer und homiletischer Verse aus dem 15. Jahrhundert.

Eine andere Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellte, war, wie ging man damit um, wenn der eigene Glauben angefochten wurde, zum Beispiel durch militärischen Misserfolg? 

Bitte erläutern Sie! 

Weltecke: Ein Dominikaner, Riccoldo da Monte di Croce (1242-1320), war im Nahen Osten als Missionar unterwegs, als die Mamluken, die vorherrschende Dynastie ab späten 13. Jahrhundert, im Jahr 1291 Akko eroberten und die Ära der Kreuzfahrerherrschaften zu Ende ging. Er hat nach seiner Rückkehr eine herzzerreißende Klage geschrieben, "Briefe an die Himmlische Kurie", in denen er Maria und Jesus fragt, warum sie zugelassen haben, dass Kirchen erobert und Nonnen geschändet wurden. Er beschreibt, wie die Muslime ihren Sieg als Beweis der Wahrheit ihres Glaubens betrachten und die Christen verhöhnt hätten, weil ihnen Jesus offenbar nicht zu Hilfe gekommen sei. Auf dem Höhepunkt seiner Klage sagt er, er habe den Koran auf den Altar gelegt und er fordere Gott auf, das zu lesen und zu erklären, ob man fürderhin Mohammed folgen solle (vgl. Weltecke, 2007).

Ich habe mich gefragt, ob Juden in den deutschen Landen nicht an ihrem Glauben zweifelten, wenn sie Verfolgungen ausgesetzt waren, schließlich wiederholt man in der lateinisch-christlichen Welt seit dem Kirchenvater Augustinus (354-430), dass die Juden als in aller Welt zerstreute Zeugen ihrer eigenen Missetaten und der Wahrheit des Christentums seien. Bei der Gelegenheit habe ich Quellen gefunden, die jetzt im Buch auch besprochen werden.

Die Ringparabeln stellen die Frage nach der Wahrheit der Religionen. Eine beliebte Frage schon im Mittelalter.

Frau Weltecke, wie verstanden sich Mitglieder von Judentum, Christentum, Islam um 1200 nach Christus? Welche Religionsbegriffe gab es?

Weltecke: Juden, Christen und Muslime bezeichneten sich selbst als Juden, Christen und Muslime; sie hatten eine Vorstellung von der gesamten universalen Gemeinschaft. Zugleich verstanden sie sich als Angehörige bestimmter Lehren oder Gruppen bzw. von Kirchen und vor Ort gehörten sie zu bestimmten Gemeinden und Institutionen. Es gab konfessionelle Gruppen, die sich gegenseitig ablehnten. Es war polyzentrisch, es gab nicht das eine Christentum. Und auch nicht das eine Judentum oder den einen Islam. Es gibt keine übergeordnete Instanz. Die Instanz in Rom, der Papst hatte hier nichts zu sagen. In der Praxis war er nur für die lateinischen Christen zuständig.    

Es gab in allen drei abrahamischen Kulturen einen allgemeinen Begriff, der einigermaßen mit dem übereinstimmt, was wir "Religion" nennen, das war "Gesetz". Man folgte also einem "Gesetz", das den Kultus und das Leben regelte. Auch das Wort "Glauben" als allgemeiner Begriff ist weit verbreitet. Davon abgesehen folgte man einer "Schule", einer "Lehre", einer "Tradition", einem "Weg", oder, typisch für die Christen, einem "Bekenntnis". Auch diese Begriffe waren transkulturell verbreitet. 

Wie haben sich die drei abrahamischen Religionen im Mittelalter weiter entwickelt? Sie schreiben, dass es anfangs sogar gemeinsame Pilgerorte gab.

Weltecke: Im Gegenteil, gemeinsame Pilgerorte gibt es immer noch! Ganz Jerusalem ist so ein gemeinsamer Pilgerort oder auch Hebron. Dass es diese gemeinsamen Orte gibt, bedeutet nicht, dass es da immer friedlich zuging oder zugeht.

Die wichtigsten mittelalterlichen Innovationen waren die Entstehung bzw. Stabilisierung der jüdischen Gruppen, der christlichen Kirchen und der islamischen Strömungen. Das passierte nicht gleichzeitig; der Talmud im Judentum oder die konfessionellen Streitigkeiten der Christen sind Erscheinungen, die schon in der Spätantike anfangen. Aber während sich die islamische Orthodoxie ausbildet, werden auch sie vom 7. bis 10. Jahrhundert systematisiert und stabilisiert. 

Wie muss ich mir das vorstellen? 

Weltecke: Das ist ein Prozess der Standardisierung, Orthodoxifizierung und Institutionalisierung. Bis zum 15. Jahrhundert kommen noch ein paar Gruppen und ein paar Kirchen dazu, andere sind heute verschwunden, aber es ist in etwa das Bild, das auch heute noch diese drei Religionen bestimmt. 
Diese Systematisierung wurde vor allem auch durch die politische und gesellschaftliche Ordnung in den islamischen und christlichen Herrschaftsgebieten angetrieben. Die ersten christlichen Reiche – das Römische, das Äthiopische und das Armenische – gab es seit dem 4. Jahrhundert; es gab auch jüdische Herrschaftsformen im Jemen und am Schwarzen Meer. Aber auch diese Herrschaftsform, die monarchische, an einen Gott gebundene und durch ihn legitimierte Herrschaft, breitete sich seit dem 7. Jahrhundert aus und wurde systematisiert. 

Sie berichten sogar von Quellen, die zeigen, dass man mitunter sehr interessiert war, an den religiösen Festen der anderen. Wie funktionierte das? 

Weltecke: Auch das gibt es immer noch; es gibt auch viel ethnologische Forschung dazu. Ich war in Konstanz in der jüdischen Gemeinde auch nie der einzige christliche Gast. Es funktioniert, weil man sich der Gemeinsamkeit des einen Gottes bewusst sein kann und auch der Verwandtschaft der "Gesetze". Für Christen ist die hebräische Bibel als ihr "Altes Testament" relevant; im Koran kommen Jesus und Maria vor. Das ist nicht für alle eine Grundlage für eine friedliche Begegnung, aber es ging und es geht. Zum anderen ist ein Fest ein Fest – und man macht gerne mit, wenn es etwas Gutes zu Essen und zum Trinken gibt. Die Feste der Anderen übten und üben auch wegen ihrer Exotik Reiz aus oder weil es schöne Musik gibt. 

Sie haben ihr Buch "Die Drei Ringe" genannt – heute kennt man die neuzeitliche Parabel von Lessing, was ist die Geschichte dahinter? 

Weltecke: Bei Lessing wird der Jude Nathan vom Sultan aufgefordert zu sagen, welche Religion die beste sei, und er erzählt die Geschichte vom Vater, der drei Söhne hat, die er liebt, und denen er etwas vererben möchte. Er hat aber nur einen Ring. Also lässt er zwei weitere herstellen, die dem anderen aufs Haar gleichen. Nicht einmal der Vater kann sie unterscheiden. Nach seinem Tod kommt es zu Streit. Der Richter verlegt die Frage nach dem wahren Ring auf die Funktion des Ringes, der vor Gott und den Menschen angenehm macht, und auf die Zukunft: Das Verhalten muss es zeigen, ob jemand den Ring hat. Wenn sich alle nur gegenseitig anfeinden, ist vielleicht der echte Ring sogar verloren.

Und welche Vorläufer-Parabeln erzählte man sich und mit welcher Intention?

Weltecke: Es gibt ungefähr 25 verschiedene Fassungen solcher Parabeln, darunter auch aus dem indischen Raum aus der Zeit vor Christus. Immer geht es um das Verhältnis rivalisierender Lehren und Glaubensgruppen und um die rechte Erkenntnis der einen Wahrheit. Die Rivalen können durch Brüder, Gefährten, Reisende, Diener, Betrüger, blinde Bettler, Menschen in einem dunklen Raum oder Schwestern symbolisiert werden. Die eine Wahrheit kann ein Ring sein oder ein Schatz, eine Perle, ein Heilmittel, ein Brot, das man sich teilen muss oder ein Elefant. 

Sie bringen eine komplett neue Interpretation der Parabeln. Was war die Erzählabsicht? 

Weltecke: Die Erzählabsicht ist unterschiedlich, aber die Geschichten stammen immer aus dem Bereich der weltlichen oder der spirituellen Unterweisung, die emotional ansprechend sein soll. Man kann sich damit über die rivalisierenden Gelehrten mokieren, man kann zweifelnde Zuhörer in der Predigt trösten, man kann lernen, wie man sich aus der Affäre einer brenzligen Situation einem mächtigen Mann gegenüber zieht, wie der Jude Melchisedek bei Boccaccio, dessen Fassung der Lessings am nächsten kommt. 

In dieser Fassung steckt eine theologische und auch historische Theorie: Dass nämlich alle einen gemeinsamen Vater haben und Brüder sind, also zu einer Familie gehören – und sich streiten. Deshalb ist das für mich das Symbol für dieses Buch und für das Mittelalter überhaupt. 

Ihre These umreißt, dass die drei abrahamischen Religionen erst im Mittelalter entstanden sind. Ab wann genau und wie muss man sich das vorstellen? 

Weltecke: Mir geht es in meinem Buch darum, die mittelalterlichen Jahrhunderte als die entscheidende Epoche vorzustellen, in der die Religionen zu dem geworden sind, als die wir sie grosso modo heute auch noch kennen; es ist nicht das, was es im ersten Jahrhundert gab. Einige Merkmale habe ich schon genannt (Lehrtraditionen, Konfessionen, politische Theorien). Sie haben die ganze antike Welt mit ihren Netzwerken, Gebäuden, Institutionen umgebaut, eine universale Zeitrechnung und Festkalender geschaffen, Liturgien und Regeln standardisiert, Menschen in Gemeinden organisiert, in denen das Leben von der Geburt an bestimmten Regeln unterworfen wurde (ohne, dass damit eine absolute Kontrolle gemeint ist, die gab es zu keiner Zeit im Mittelalter, das ist erst im 20. Jahrhundert möglich). 

Wann und wo findet das denn statt?

Weltecke: Das war ein Prozess, kein Zeitpunkt, und es war auch nicht überall gleichzeitig. Meine Protagonisten im 12. und 13. Jahrhundert, die christlichen Pilger aus China, der muslimische Pilger aus Spanien und der jüdische Pilger aus Böhmen, die in dieser Welt unterwegs sind, zeigen, dass diese Welt jetzt schon ganz gut zu erkennen war. Allerdings unterschied sich ihr Verständnis von "Religion" erheblich von unserem.  

Es gab also keinen erbitterten Streit um den wahren Gott? Worüber tauschte man sich aus?

Weltecke: Natürlich gab es erbitterten Streit um den wahren Gott, immer! Streiten gehört dazu. Man muss es auch nicht nur negativ sehen, es ist ja auch die Suche nach der wahren Lehre, das Ringen um die richtige Interpretation. Allerdings hat im Mittelalter niemand das letzte Wort über die gesamte Glaubenstradition aller Juden, Christen und Muslime; sie waren immer polyzentrisch und mussten die interne Uneinigkeit auch hinnehmen. 

Worum geht es?

Weltecke: Mir geht es um etwas anderes: Es gibt derzeit eine dominante historische Theorie, die monotheistischen Religionen seien gewalttätig und intolerant, weil am Berg Sinai, wo Moses das Gesetz erhalten hat, ein absoluter Wahrheitsanspruch verkündet wurde – erst die Aufklärung habe dies durchbrechen können. Damit sind die monotheistischen Religionen durch ihre Natur und also auch unabänderlich intolerant. Diese Theorie weise ich zurück; sie ist historisch falsch. 

Es ist also komplizierter….

Weltecke: Es gab erstens nie nur Streit, sondern auch Austausch und Respekt – durch das gemeinsame Erbe und den gemeinsamen einen Gott, durch die Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie, die als Grundlage für alle Wissenschaften in der islamischen und in der christlichen Welt verbreitet wurde. Und zweitens gibt es sehr viel Detailforschung darüber, wie genau Motive, Riten, Theologie zwischen den Glaubenstraditionen wanderten. Ich bin in meinem Buch auf der nächsten Abstraktionsebene unterwegs und versuche, diese empirischen Erkenntnisse in einem neuen historischen Modell zusammenzufassen: Sie, die Anhänger der drei Religionen, machen vieles ähnlich; pilgern wird zum Beispiel für alle wichtig, obwohl das die Autoritäten am Anfang gar nicht unbedingt gerne sehen, zu bestimmten Zeiten essen und nicht essen, das Studium und die Kommentierung der Heiligen Schriften, also Schrift und rationale Diskussion allgemein etc.

Wenn es so viel gegenseitige Wertschätzung gab, warum kam es dann immer wieder zu Judenverfolgungen im Spätmittelalter? 

Weltecke: Vorsicht: Austausch und Respekt sind nicht Wertschätzung für das "Gesetz" oder den "Glauben" der Anderen als solche! Ein Muslim konnte in eine Kirche gehen und trotzdem das Christentum für eine idolatrische Blasphemie halten. Christen lasen das Alte Testament und konnten trotzdem die Juden für völlig verirrt halten. Der lateinische Theologe Thomas von Aquin (1225-1274) konnte den jüdischen Gelehrten Saadia Gaon (882-942) und den islamischen Gelehrten Averroes (1126-1198) zitieren, weil er das nützlich und richtig fand, aber damit lehnte er die jüdische und die islamische Lehre trotzdem vehement ab! 

Was steckte hinter der Ablehnung?

Weltecke: Polemik und auch Feindschaft gab es auch von Anfang an. Aber die Rivalität hatte eine feindliche Seite, vor allem, weil sie auf der politischen Ebene mit einer Gesellschaftsordnung verbunden war. 

Die großen Konjunkturen der Gewalt vom 12. bis 15. Jahrhundert, von denen die Pogrome in den deutschen Landen die brutalsten Massenmorde sind, die mir für diese Zeit bekannt sind, lassen sich nicht mit einem Satz erklären. Sie lassen sich schon gar nicht mit einer vermeintlich natürlichen Feindschaft zwischen den monotheistischen Religionen erklären. Das geht schon deshalb nicht, weil es etwa im byzantinischen Reich zu nichts Vergleichbarem gekommen ist, oder auch nicht in Äthiopien. Also muss man nach spezifischen historischen Ursachen vor Ort fragen. Was hat die lateinisch-christliche Welt so gewalttätig werden lassen? Nicht: Warum sind Christen gegen Juden so gewalttätig gewesen. 

Sie stellen auch die Machtfrage - was muss man im Blick haben, wie die Gesellschaften vor 1500 oder 800 Jahren funktionierten?  

Weltecke: Im Mittelalter konnte man noch nicht religiöse Einheit mit Gewalt herstellen, das ging erst in der Neuzeit. Es gab immer irgendwo beherrschte Minderheitengruppen, mal größere, mal kleinere. Man wollte es auch meistens nicht; Ausnahmen besonders fanatischer Herrscher bestätigen hier die Regel. Man wollte sich zum Beispiel jüdischer, christlicher oder muslimischer Händler bedienen oder wollte ihre Wirtschaftskraft und ihre Steuern nutzen, sie als Söldner oder Verwalter einsetzen. Im Lauf des frühen Mittelalters wurde daraus ein politisch-soziales System: Manche Menschen wurden geduldet und privilegiert, sie durften ihren Glauben ausüben und ihr Leben selbst organisieren. Sie hatten aber einen niedrigeren Rechtsstatus und mussten höhere Steuern zahlen. Ihre Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft war eine Kategorie der rechtlichen und sozialen Ungleichheit. Das trieb eine Dynamik an, die zu einer sozialen Schließung von Gruppen führt und notwendigerweise zu Gewalt. 

Gewalt, um bestimmte Mitglieder in der Gesellschaft kleinzuhalten?

Weltecke: Man braucht Gewalt, um Ungleichheit aufrechtzuerhalten. Man braucht Polemik, um Diskriminierung zu begründen. Das hat die immer vorhandene theologische Polemik zu einem Instrument gemacht, sie wurde favorisiert, um Macht auszuüben.

"Man braucht Polemik, um Diskriminierung zu begründen"

Die Machtfrage, die militärische und die politische Macht, wurde als Entscheidung über die Wahrheit genutzt; die Sieger fühlten sich in ihrem Glauben bestätigt. Das ist die entscheidende Dynamik hin zur modernen Intoleranz, nicht die Offenbarung  am Sinai.

Damals gab es zahlreiche Christen in Asien, nicht nur in Armenien, sondern auch in China und Indien. Wie kam es dazu, dass die Christen aus Nahost und Asien verschwanden? 

Weltecke: Im 14. und 15. Jahrhundert ging dieses mittelalterliche System aus Duldung und Privilegierung zu Ende; jetzt wollte man nicht nur die Einheit, man konnte sie auch durchsetzen. Christliche Kirchen verschwanden aus Zentralasien in neuen islamischen Dynastien, weil diese die Christen nicht mehr duldeten, genau weiß man das nicht – die Gemeinden gingen eben unter. In Südindien sind sie bis heute noch da, aber hier war es der europäische Kolonialismus und die lateinische Kirche, die im Jahr 1599 eine Latinisierung erzwangen, um die Handelswege für Pfeffer zu kontrollieren. Heute sind sie zur syrisch-aramäischen Liturgie zurückgekehrt.

Was ist für Sie die erstaunlichste Erkenntnis aus dieser umfassenden Forschung? 

Weltecke: Dass die jüdische Tradition so deutlich diejenige sein würde, für die die Entwicklung die schlimmsten Konsequenzen hatte, obwohl Christen und Muslime allgemein bewusst war, dass die Juden die ersten waren, die die Offenbarung erhalten hatten. 

Die drei Religionen hätten trotz der Gewalterfahrung aber auch wie Schwesterreligionen sein können?

Weltecke: Gender ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden. In allen drei Lehrtraditionen haben die Männer dafür gesorgt, ihre Autorität immer wieder zu bestätigen, Frauen weitgehend aus der formalen Lehre auszuschließen und die rechtliche und soziale Ungleichheit der Frauen zu zementieren.

Wie könnten diese Religionen überhaupt wieder zusammenrückten und sich auf Augenhöhe austauschen? 

Weltecke: Indem sie von ihrem Weg erzählen und von ihren Leiden, von Unterdrückung und Gewalt. Und darüber muss man sprechen können. Wie hat das die Gemeinden verändert, wenn sie Verfolger oder Verfolgte waren. Aber ich bin ja Historikerin und nicht Theologin. 

Buchhinweis: 
Dorothea Weltecke: Die Drei Ringe – Warum die Religionen erst im Mittelalter entstanden sind, C.H.Beck Verlag, 608 Seiten, 38 Euro. Historische Bibliothek der Gerda Henkel-Stiftung.