evangelisch.de: Das EG (Evangelische Gesangbuch) gibt es seit rund 30 Jahren. Weshalb ist nun ein neues Gesangbuch nötig?
Susanne Hasselhoff: In der Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum entstand eine neue Bibelübersetzung, die Lutherbibel 2017. In der gleichen Zeit wurde auch die Übersicht der wöchentlichen Lesungen und Lieder für den Gottesdienst überarbeitet. Das hatte zur Folge, dass viele Texte im Gesangbuch nicht mehr dem aktuellen Stand entsprachen, etwa auch die Psalmen, die ja sonntäglich in vielen Gemeinden gemeinsam gebetet werden. Außerdem sind in den letzten 30 Jahren unzählige neue Lieder entstanden, auch im aktuellen Pop- oder Singer-Songwriter-Stil. Dazu kam die Anforderung, das Gesangbuch endlich auch digital, auf dem heutigen Stand der Technik, verfügbar zu machen. Aus rechtlichen Gründen bedeutet all das, das ganze Buch zu überarbeiten.
Steuerungsgruppe und Gesangbuchkommission arbeiten seit vier Jahren. Was ist bisher passiert?
Hasselhoff: Zunächst mussten die Grundlagen der gemeinsamen Arbeit aller Landeskirchen und der Evangelischen Kirche in Österreich festgelegt und die Aufgaben sortiert werden. Die berufenen Mitglieder der Kommission arbeiten in fünf Ausschüssen: Liedauswahl, Textauswahl, Digitale Fragen, Konzeption und Gestaltung, Begleitpublikationen und Singvermittlung. 2021 wurde ein Leitlinienpapier verabschiedet. Auch die Größe von etwa 500 Liedern im Buch und 2000 im Digitalen sowie das Verhältnis von zwei Dritteln Liedern und ein Drittel Texte wurden als Arbeitsgrößen vereinbart. Der Liedausschuss hat entschieden, welche Lieder gesichtet werden. Allein durch das vorliegende Gesangbuch, alle Regionalteile, alle Begleithefte und Kirchentagsliederbücher, dazu noch etwa 1000 Einsendungen waren das schon mehrere 1000 Lieder.
Der Textausschuss hat sehr gezielt überlegt, was heute wirklich im Gottesdienst und im Gemeindeleben gebraucht wird. Das neue Gesangbuch soll möglichst nur unmittelbar für den Gottesdienst nutzbare Texte und Anregungen enthalten. Lieder und passende Texte sollen immer zusammenstehen, also etwa Taufgebete und biblische Texte zur Taufe bei den Taufliedern.
Neben dem Inhalt spielt ja die Aufmachung eine große Rolle. Wie ist der Stand da?
Hasselhoff: Der Gestaltungsausschuss arbeitet seit dem letzten Jahr eng mit einer Agentur zusammen, um das neue Design zu entwickeln. Wer sich verschiedene Gesangbücher einmal genauer anschaut, wird merken, dass es eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt. Zum Beispiel, um mit Nummern und Seitenzahlen zu arbeiten – ein scheinbar unauffälliges Problem, das aber jede Menge Überlegungen erfordert, wenn dabei die Verweise ins Digitale eindeutig und die Regionalteile erkennbar bleiben sollen. Das ist im Moment eins meiner Lieblingsbeispiele dafür, wie hinter scheinbar kleinen Fragen komplexe Probleme auftauchen.
Zum ersten Mal wird es das Gesangbuch auch in einer digitalen Form geben. Was bedeutet das in der Vorbereitung?
Hasselhoff: Technisch ist vieles möglich, rechtlich auch - aber es soll eben auch für alle, die mit dem Gottesdienst zu tun haben, bezahlbar bleiben und die Möglichkeit bieten, dass die Gottesdienstgemeinde zeitweilig darauf zugreifen kann. Nach vielen Beratungen gab es nun eine Ausschreibung an entsprechende Unternehmen.
"Das jetzige Evangelische Gesangbuch hat 16 Jahre auf sich warten lassen, in manchen Landeskirchen noch länger."
Wie vermitteln Sie Ihre Arbeit der Öffentlichkeit?
Hasselhoff: 2025 soll eine Austauschplattform an den Start gehen, auf der alle Ideen rund um das Singen Platz finden. Denn wir sind uns sicher, dass es ums Singen und die Musik in den Gemeinden geht, nicht um das Buch an sich.
Welche Schritte stehen noch aus – wann soll das neue Gesangbuch erscheinen?
Hasselhoff: Liederliste und Textauswahl sind noch in Arbeit. Lieder und Texte müssen in die sechs geplanten Rubriken sortiert werden. Manche Lieder können ja verschiedenen Themen zugeordnet werden. Digital, mit Schlagworten, ist das recht einfach, wenn auch zeitaufwendig. Aber im Buch muss man sich halt entscheiden. Unser Ziel ist, dass das Gesangbuch 2028 fertig ist.
Warum dauert es so lange, bis ein neues Gesangbuch fertig wird?
Hasselhoff: Grundsätzlich gab es immer auch Gesangbücher, die auf Initiative von Einzelnen oder kleinen Gruppen ganz schnell entstanden. Auf der anderen Seite steht die Arbeit großer Gruppen, die ein Gemeinschaftsgesangbuch entwickeln wollen. Das jetzige Evangelische Gesangbuch hat 16 Jahre auf sich warten lassen, in manchen Landeskirchen noch länger. Für die Arbeit am neuen Gesangbuch haben wir uns für einen partizipativen Prozess aller Landeskirchen und Verbände entschieden - also die Idee, dass viele direkt beteiligt sind und im Schneeballsystem die Informationen weitergeben.
Hat Corona die Arbeit behindert?
Hasselhoff: Unser Start war etwas holprig, ja. Die erste Stelle im Projektbüro war im Herbst 2019 besetzt, die erste Tagung in Präsenz konnte erst im November 2021 stattfinden. Fast ein Jahr später als geplant. Für die einzelnen Ausschüsse war es auch schwieriger, in ihre Arbeit hineinzufinden. Trotzdem arbeiten wir natürlich überwiegend via Videokonferenzen weiter.
Was wird sich ändern gegenüber dem jetzigen EG?
Hasselhoff: Das neue Gesangbuch steht zwar in der Tradition des Kulturgutes "Evangelisches Gesangbuch", es denkt aber im Kern von den Nutzer:innen aus - auch von denen, die gar nicht mit der Tradition eines Gesangbuchs vertraut sind. Was brauchte ich griffbereit? Da muss etwa das Vaterunser auf den Umschlagseiten auftauchen. Wie finde ich die Rubrik Gottesdienst schnell? Da hilft ein Farbsystem. Wie kann ich als Ungeübter eine Andacht vorbereiten?
Einige ausformulierte Vorlagen geben Orientierung, Gerüste helfen dabei, in aller Kürze Andachten zu verschiedenen Themen vorzubereiten. Bekenntnisse, die im Gottesdienst keine Rolle spielen, sondern eher zum Lernen oder Schmökern in evangelischer Tradition dienten, finden sich dann nur noch zum Nachlesen im Digitalen. Dort wird es einen Bezahlbereich geben, in dem man alle Lieder mit Lizenzkosten findet, aber eben auch einen kostenfreien Raum für gemeinfreie Inhalte und kreative Gestaltungsmöglichkeiten.
Würde ein digitales Gesangbuch nicht ausreichen, oder warum ist eine Druckversion noch nötig?
Hasselhoff: Auch wenn die Digitalversion für mehrere Landeskirchen die wesentliche Motivation ist, sich um ein neues Gesangbuch zu bemühen, so haben doch alle Gespräche im Vorfeld deutlich gemacht, dass es noch nicht vorstellbar ist, auf ein gedrucktes Buch zu verzichten. Das hat zum Teil den sehr pragmatischen Grund, dass digitale Plattformen immer auch Internet benötigen und längst noch nicht alle Kirchen mit Wlan ausgestattet sind - wobei auch eine Downloadversion für den Gottesdienst vorgesehen ist. Noch wesentlicher ist vielleicht, dass der Gottesdienst von vielen als letzte smartphonefreie Zone gesehen wird. Das bedeutet zwar, dass diejenigen, die einen Gottesdienst vorbereiten, für ihre Arbeit digital ausgestattet sein sollen, dass aber die Besucher:innen im Gottesdienst nicht unbedingt darauf aus sind, die Lieder nur über ihr eigenes Endgerät lesen zu können.
Es fällt eben auch schwer, wenn man das Gerät schon in der Hand hält, nicht noch schnell mal die E-Mail zu lesen, die gerade aufploppt. Trotzdem sollen Gemeindeglieder auch einen digitalen Zugang zu den Inhalten des Buches zur Verfügung haben.
Ein digitales Gesangbuch wäre doch auf jeden Fall günstiger?
Hasselhoff: Nein. Digital bedeutet nicht, dass es billiger ist. Die Herstellung eines Buches und die Programmierung einer Plattform sind kostspielig, dazu sind urheberrechtliche Lizenzen im digitalen Raum deutlich teurer als im Printbereich. Und natürlich verursacht eine Plattform laufende Kosten wie Server, Wartung, Updates. Ziel ist natürlich, dass die Komponist:innen und Autor:innen angemessen vergütet werden. Deshalb kann es unter Umständen für eine Gemeinde schlicht eine Finanzfrage sein, ob sie einmal die Bücher kauft oder das Abo für das digitale Gesangbuch abschließt.
Etwa 500 Lieder sollen im neuen Gesangbuch enthalten sein. Gibt es ein paar Beispiele für neu aufgenommene Lieder? Worauf können sich die Gemeinden freuen?
Hasselhoff: Dazu kann ich noch nichts sagen. Wir wollen erst die Bewertung der Lieder abwarten. Ende dieses Jahres wird es voraussichtlich eine erste Liste geben. Ich glaube, die Gemeinden können sich jetzt schon darauf freuen, dass viele Lieder, die in den letzten 20 Jahren landaus, landein zum Standard geworden sind, manchmal sogar schon in den letzten Regionalteilen als brandneu auftauchten, dann auch im neuen Buch stehen und so manche Kopie nicht mehr nötig ist. Allerdings gilt es immer festzuhalten, dass das Gesangbuch sich als eine Art Konsens zum Zeitpunkt des Erscheinens versteht und nicht als Experimentierbuch für ganz neue Lieder. Die wird es natürlich weiterhin in anderen Publikationen geben.
Auf der anderen Seite werden auch Lieder wegfallen…
Hasselhoff: Natürlich. Gemeinsam haben alle Landeskirchen im jetzigen sogenannten Stammteil 535 Lieder. Das neue Buch soll also etwas dünner sein und zu etwa zwei Dritteln neuere Lieder beinhalten. Das bedeutet zwangsläufig, dass etliche Lieder im gedruckten Buch wegfallen. Und da wird auch der ein oder andere schmerzhafte Abschied dabei sein. Das Schöne ist aber: im Digitalen wird dann doch wieder eine Menge auftauchen und via Beamer schnell im Gottesdienst nutzbar sein. Das ist sicher ein Vorteil gegenüber früheren Generationen.
"Was machen wir dann aber mit alten Liedern, die unter anderen gesellschaftlichen Vorstellungen entstanden, uns aber trotzdem lieb und teuer sind und so manche Wendung benutzen, die wir heute nicht mehr durchgehen lassen würden?"
Nach welchen Kriterien erfolgt die Liedauswahl?
Hasselhoff: Der Liedausschuss hat ein einigermaßen objektivierbares Verfahren entwickelt, ein Punktesystem, über das jedes Lied in mehreren Schritten eine Wertung bekommt. Für die erste Übersicht gibt es im Prinzip erstmal schlicht einen Schnitt bei 500 und 2000. Dann geht es an die Feinarbeit: Gibt es jeweils genug altes, neues, kindertaugliches, bandattraktives, Konfis begeisterndes Liedgut, ein Lied mit Gebärden in jeder Rubrik? Hier gilt es im Blick auf die Rubriken noch die Mindeststandards festzuhalten, weil es eben auch Themen gibt, zu denen es gar nicht so viele thematisch passende Lieder gibt.
Gibt es auch schwierige Fälle?
Hasselhoff: Natürlich gibt es kniffelige Themen: Es soll in unserem Gesangbuch selbstverständlich keine Gewaltverherrlichung, kein Antisemitismus, kein Rassismus vorkommen. Was machen wir dann aber mit alten Liedern, die unter ganz anderen gesellschaftlichen Vorstellungen entstanden, uns aber trotzdem lieb und teuer sind und so manche Wendung benutzen, die wir heute nicht mehr durchgehen lassen würden? Was machen wir mit Liedern aus der Friedensbewegung der 80er Jahre, in denen der Begriff "Rasse" gerade im antirassistischen Sinne gebraucht wurde? Bekanntestes Beispiel ist hier das Lied "Herr, deine Liebe". Wir würden den Verfassern sicher unrecht tun, wenn wir ihnen Rassismus vorwerfen. Anders sieht es aus bei Liederdichtern mit nationalsozialistischer Gesinnung. Manchem Lied merkt man davon ja nichts an. Gibt es da eine Trennung zwischen Autor und Werk und wie kommentieren wir diese?
Dann gibt es noch die Frage der gendersensiblen Sprache. Unter diesen Kriterien ist bis heute kaum ein Lied geschrieben, das schon den Status eines Gesangbuchliedes haben dürfte. Und so wird die entsprechende Redaktionsgruppe hier sicher noch etliche Diskussionen führen. Für alle Fragen gilt es Einzelentscheidungen zu treffen - von weglassen bis Strophen streichen oder umdichten. Hier haben uns auch viele kreative Vorschläge erreicht. Aber ganz ohne Diskussionen wird das alles sicher nicht zu lösen sein. Diese Redaktionsarbeit erfolgt im Wesentlichen auch erst mit Vorliegen der fertigen Liederliste.
Wer entscheidet letztlich darüber, welche Lieder reinkommen beziehungsweise raus müssen?
Hasselhoff: Die Gesangbuchkommission erarbeitet wie beschrieben die Liederlisten – und natürlich auch die Texte. Die Steuerungsgruppe sichtet die Materialien aus den Ausschüssen und fügt sie zusammen. Was in der Steuerungsgruppe beschlossen wird und sich unmittelbar auf das Buch/Digitales Gesangbuch bezieht, geht dann weiter in den Rat der EKD. Rat und Kirchenkonferenz sind dann die höchsten entscheidenden Gremien.
Natürlich gibt es vorab einen umfassenden Abstimmungsprozess. So können zum Beispiel Wünsche aus den Landeskirchen, die keinen Regionalteil planen, vorher eingebracht werden. Über die Regionalteile sind wir ohnehin mit den entsprechenden Landeskirchen im Gespräch. Doch auch der vorherige Gesangbuchprozess hat gezeigt: Am Ende ist es gut, wenn gegen alle Widerstände doch noch das ein oder andere Lied auf ursprünglich nicht vorgesehenen Wegen seinen Platz findet. Sonst hätten wir etwa heute nicht das in vielen Gemeinden gesungene Lied "Vertraut den neuen Wegen" im gemeinsamen Liederteil. Ein bisschen sollte eben doch der Geist mitwirken.