Kassel (epd). Der Verband Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP) hat 64 Fälle von sexualisierter Gewalt zwischen 1977 und 2020 gemeldet. Der Verband rechne aber mit mehr Fällen, sagte die Präventionsbeauftragte, die Psychologin Louisa Kreuzheck, am Montag in Kassel. „Wir wollen mit der Kultur des Schweigens und Wegsehens brechen“, erklärte das Bundesvorstandsmitglied Peter Keil. Deshalb habe der VCP aus eigenen Mitteln eine wissenschaftliche Studie über sexualisierte Gewalt im Verband in Auftrag gegeben.
Elf der gemeldeten Taten seien strafrechtlich verfolgt worden, der Ausgang der Verfahren sei nicht immer bekannt. Zum Teil habe es Schuldsprüche gegeben, zum Teil seien die Verfahren ohne Urteil geblieben.
Die Beschuldigungen reichen nach Kreuzhecks Angaben von Grenzverletzungen wie einmaligen oder gelegentlichen Berührungen über verbale Gewalt bis hin zur Vergewaltigung. Die meisten der dokumentierten Fälle hätten sich bei Pfadfinderlagern, Schulungen und privaten Treffen ereignet, erklärte Keil. Er bezeichnete „hierarchische wie auch freundschaftliche Strukturen“ als Risiko.
Im protestantisch geprägten Verband Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP) sind bundesweit rund 20.000 junge Menschen in 650 Stämmen (Ortsgruppen) aktiv, rund 5.000 engagieren sich als ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Rund die Hälfte der Mitglieder ist jünger als 21 Jahre.
Die Beschuldigten bei den dokumentierten Altfällen seien ausschließlich männlich, Gruppenleiter und andere Mitarbeitende, Jugendliche wie Erwachsene, die ihre Funktionen und Rollen ausgenutzt hätten. Während bis in die 1990er Jahre hinein die Opfer auch ausschließlich männlich gewesen seien, so seien die Betroffenen ab den 2000er Jahren überwiegend Mädchen und junge Frauen gewesen. Das Alter der Betroffenen liege mehrheitlich zwischen 12 und 18 Jahren. Vereinzelt seien es Kinder im Alter von fünf bis acht Jahren.
Früher habe der VCP aus Scham und auf seinen Ruf bedacht eher den Mantel des Schweigens über Fälle sexualisierter Gewalt gelegt, sagte Keil. In den vergangenen Jahren sei das Tabu aber gebrochen worden. Der VCP bestärke Kinder und Jugendliche darin, Nein zu sagen, wenn ihnen etwa Berührungen komisch vorkommen. Der Verband wolle das Vertrauen in die Pfadfinder-Arbeit wieder stärken.
Die Sprecherin des Beirats zur Aufarbeitung Sexualisierter Gewalt im VCP, Marlene Kowalski, kündigte den Beginn einer wissenschaftlichen Studie zur Aufarbeitung durch das Münchener Forschungsinstitut IPP und das Berliner Institut Dissens an. Ergebnisse würden für Ende 2025 erwartet. Begleitet werde der Aufarbeitungsprozess durch den 2020 eingesetzten Beirat zur Aufarbeitung Sexualisierter Gewalt im VCP mit internen und externen Mitgliedern.
Die Studie solle aufklären, welche Fälle es an sexueller Gewalt bei den Pfadfindern gegeben habe, erklärte Peter Caspari vom Institut IPP. Außerdem wollten die Wissenschaftler untersuchen, welche kulturellen, strukturellen und möglicherweise religiösen Faktoren Missbrauch begünstigt haben. Schließlich gehe es um das Verhalten der Verantwortlichen des Verbandes und um die Auswirkungen der Übergriffe auf Betroffene. Ziel seien Empfehlungen für die Vorbeugung und für die Intervention. Betroffene und Zeitzeugen sollten sich melden, Anonymität werde zugesichert.
Der Verband habe für die Aufarbeitung Rücklagen in knapp der Hälfte eines Jahreshaushalts angespart, erklärte Kreuzheck. Knapp 300.000 Euro koste die Studie, knapp 200.000 Euro seien als Unterstützungsleistungen für Betroffene vorgesehen. Für die Zahlung von Anerkennungsleistungen hoffe der VCP auf die evangelische Kirche.