Auch im Islam gibt es so etwas wie Konfessionen: Die weitaus meisten Muslime in aller Welt – rund 80 Prozent – zählen zur Hauptströmung der Sunniten. Ihre Glaubenspraxis richtet sich nach dem Koran und der Sunna, also der Überlieferung vom vorbildlichen Lebensweg des Propheten Mohammed. Auch im deutschen Islam bilden die Sunniten die deutliche Mehrheit. Außerdem gibt es die Glaubensgemeinschaften der Schiiten und Aleviten, die pakistanische Ahmadiyya-Bewegung, mystische Sufi-Orden und andere Gruppen.
Am langen Arm der Türkei: Der Moscheenverband DITIB
Die meisten Muslime hierzulande haben ihre familiären Wurzeln in der Türkei. Die Republik am Bosporus rühmt sich zwar ihres Laizismus, unterhält aber paradoxerweise ein staatliches Amt zur Überwachung der Religionsausübung, das Diyanet. Dieses fördert einen gemäßigt konservativen Staatsislam.
Deutschtürkischer Moscheenverband DITIB
Zentralrat der Muslime in Deutschland
Liberal-Islamischer Bund
Islamische Gemeinschaft Milli Görü?
Verband Islamischer Kulturzentren
Zur Aufsicht über die türkischstämmigen Muslime in Deutschland protegiert das Diyanet den hierzulande größten Moscheenverband, die DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) mit Sitz in Köln. Dem Dialogbeauftragten der DITIB, Bekir Albo?a, ist es wichtig zu betonen, dass sein Dachverband von Deutschland aus gelenkt wird. Dennoch sind immer auch die türkischen Konsulate involviert. Vor allem entsendet der türkische Staat Imame nach Deutschland. Sie amtieren meist nur wenige Jahre in deutschen DITIB-Gemeinden und haben kaum Kenntnisse über die deutsche Sprache und Gesellschaft.
Alleinvertretungsanspruch: Konservative Sunniten
Im Jahr 2007 schloss sich die DITIB mit drei anderen konservativ-sunnitschen Verbänden – Islamrat, Zentralrat der Muslime und Verband Islamischer Kulturzentren – zum Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland (KRM) zusammen, um der Bundesregierung einen bundesweiten Ansprechpartner für die Einführung eines islamischen Religionsunterrichtes zu bieten. Ob diese Plattform tatsächlich die Mehrheit der vier Millionen Muslime in Deutschland repräsentiert, ist fraglich, da die meisten Muslime nicht Mitglied eines Moscheevereins sind.
Den vier genannten Verbänden ist gemeinsam, dass sie sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen, ihre Religion friedlich ausüben wollen und einen Dialog auf Augenhöhe einfordern. Der Sprache und Kultur der Herkunftsländer wird meist weiterhin der zentrale Platz eingeräumt – auch in den Moscheen.
Im Visier des Verfassungsschutzes: Milli Görü? und Muslimbrüder
Zwei Gruppierungen innerhalb dieses konservativ-sunnitischen Spektrums werden vom Verfassungsschutz überwacht: Die Islamische Gemeinschaft Milli Görü? (IGMG) und die Islamische Gemeinschaft in Deutschland (IGD). Letztere hat geistige Verbindungen zur ägyptischen Muslimbruderschaft und bietet ein umfangreiches Bildungsprogramm für Jugendliche. Ihr werden 1.300 Anhänger zugerechnet, der IGMG dagegen 29.000.
Die deutsche Milli Görü?-Bewegung wird widersprüchlich beurteilt. Der Verfassungsschutz meint, bei IGMG eher "desintegrative Tendenzen" festzustellen: Milli Görü? beklage sich über Assimilationsdruck, spreche sich aber für Demokratie und Religionsfreiheit nur insoweit aus, als es der „Durchsetzung von Sonderrechten für Muslime für ein schariakonformes Leben" diene. Dagegen halten einige Experten der jungen Führungsgeneration zugute, dass sie sich von ihren radikalen Wurzeln in der Türkei distanziert hat.
Noch kaum organisiert: Liberale Sunniten
Dass die meisten deutschen Muslime keinem Moscheenverband angehören, hat damit zu tun, dass der sunnitische Islam keine kirchenähnliche Mitgliedsstruktur kennt. Ob die vielen hunderttausend nicht organisierten Muslime eher konservativ, liberal-religiös oder säkularisiert sind, ist nur schwer zu erheben. Das liberal-muslimische Milieu repräsentieren etwa der Regisseur Fatih Akin und die Autoren Hilal Sezgin und Feridun Zaimoglu.
Um diesem Milieu eine Stimme zu geben, wurde vor einigen Wochen der "Liberal-islamische Bund" (LIB) gegründet. Vorsitzende ist die Religionspädagogin Lamya Kaddor. Exklusiven Wahrheitsansprüchen gegenüber skeptisch, will der Verband eine „längst überfällige innerislamische Diskussion anstoßen", die entmythologisiert und historische Kontexte in Rechnung stellt.
Anhänger der Familie Mohammeds: Die Schiiten
Sowohl dem liberalen wie dem konservativen Spektrum zuzuordnen sind die deutschen Schiiten. Das Schiitentum bildete sich bereits wenige Jahre nach Mohammeds Tod im Jahr 632. Die Schiiten halten im Streit um die rechtmäßige Nachfolge des Propheten der Familie Mohammeds und seines Schwiegersohns Ali die Treue.
Ina Wunn, Muslimische Gruppierungen in Deutschland. Ein Handbuch, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2007.
Adel Theodor Koury/Ludwig Hagemann/Peter Heine: Islam-Lexikon A-Z, Verlag Herder, Freiburg 2006.
Die Schiiten in Deutschland stammen meistenteils aus dem Iran. Unter ihnen gibt es sowohl Anhänger des schiitischen Mullahregimes – sie sammeln sich unter der Aufsicht des "Islamischen Zentrums Hamburg" (IZH) – als auch sehr viele Gegner der Theokratie. Letztere gehören oft zum Bildungsbürgertum. Viele von ihnen haben eher säkulare oder liberal-religiöse Ansichten. Zu dieser Gruppe gehört Deutschlands wohl bekanntester muslimischer Intellektueller, der Orientalist und Schriftsteller Navid Kermani.
Bildungsbeflissene Liberale aus Anatolien: Die Aleviten
Auf den Propheten-Schwiegersohn Ali bezieht sich in ähnlich starker Weise die anatolische Glaubensgemeinschaft der Aleviten. Anders als Mohammed gilt ihnen Ali als Tor zu einem tieferen Verständnis des Islam – jenseits des äußerlichen Religionsgesetzes. Auch innerhalb der Gemeinschaft ist umstritten, ob das Alevitentum noch zum Islam zählt. Seine Anhänger erkennen Koran und Bibel an, haben aber auch eigene heilige Schriften. Sie beten nicht in der Moschee, sondern versammeln sich in einem Cem-Haus zu Rezitation, Gebet, Musik und Tanz.
Anstößig für konservative Sunniten ist vor allem die Rolle der alevitischen Frauen: Sie verschleiern sich nicht, dürfen das Cem-Ritual gemeinsam mit den Männern feiern und haben in Verein und Familie oft eine führende Rolle. Aufgrund dieser Unterschiede waren die Aleviten in der Türkei bis in die 1990er Jahre starken Verfolgungen durch nationalistisch-sunnitische Kreise ausgesetzt. Viele von ihnen flohen nach Deutschland, wo heute schätzungsweise 700.000 Aleviten leben.
Tendenz zum Totalitarismus: Salafistische Prediger
Aus Sicht einer kleinen Minderheit unter den deutschen Muslimen sind alle zuvor genannten Strömungen vom "wahren" Islam abgefallen. Die Rede ist von den islamischen Fundamentalisten beziehungsweise Islamisten. Sie selbst bringen sich eher mit den "frommen Altvorderen" (al-salaf al-salih) des 7. Jahrhunderts in Verbindung; deshalb werden sie auch als "Salafisten" bezeichnet.
Wie die Fundamentalisten aller Couleur glauben sie, der komplexen Gegenwart durch einfache Antworten zu entkommen: Es gelte, den Islam von fremden Einflüssen reinzuhalten, insbesondere von der pauschal als verderbt wahrgenommenen westlichen Kultur.
Die Lösung für alle gesellschaftlichen Probleme sehen die Salafisten in einem verklärten Ur-Islam, den es ohne Abstriche in die Gegenwart zu übertragen gelte: In dieser allein seligmachenden Ordnung ist das islamische Recht die Grundlage der politischen Verfassung. Es gibt keine Trennung zwischen Religion und Staat. Die Geschlechter sind strikt zu trennen, wobei ein Ehemann seine Frau züchtigen darf.
Diese und ähnliche Botschaften werden vor allem durch charismatische Selfmade-Scheichs verkündet, die ihre Fangemeinde via Internet auf eine Gesellschaft einschwören, die eine deutliche Tendenz zum Totalitären hat. Ein Beispiel ist der deutschstämmige Konvertit und Ex-Boxer Pierre Vogel und der ihm nahe stehende Verein "Einladung zum Paradies".
Gesucht: Der Euro-Islam
Die Masse der Muslime hierzulande lehnt diese Ideologie ab. Selbst wenn man wie der Verfassungsschutz die Gemeinschaften IGMG und IGD mitrechnet, kann lediglich ein Prozent der Muslime in Deutschland dem Islamismus zugerechnet werden. Im Klartext: 99 Prozent der deutschen Muslime sind keine Extremisten.
"Den" Islam gibt es also nicht – genauso wenig, wie es nur eine Koraninterpretation gibt. Ob konservativ oder liberal, ob Vereinsmitglied oder unorganisiert – die weitaus meisten Muslime wünschen, ein akzeptierter Teil des freiheitlichen Gemeinwesens in Deutschland zu sein. Problematisch ist jene radikale Minderheit unter den Muslimen, die Demokratie und Menschenrechte ablehnt.
Sie zu ignorieren ist gefährlich – genauso aber der Versuch, auch alle anderen Muslime als Extremisten abzustempeln. Denn das zarte Pflänzchen "aufgeklärter europäischer Islam" beginnt gerade, sich zu entwickeln. Und viel hängt davon ab, es gedeihen zu lassen: indem man differenziert.