Berlin (epd). Der Philosoph und frühere SPD-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin hat zu einer aufgeklärten und toleranten Diskussionskultur in der Gesellschaft aufgerufen. Die Demokratie werde derzeit nicht nur durch den Rechtspopulismus, sondern auch durch „die Praxis der Cancel Culture“ bedroht, sagte Nida-Rümelin dem Berliner „Tagesspiegel“ (Freitag). Statt im Sinne der Aufklärung Argumente und Gegenargumente auch bei weit auseinanderliegenden Auffassungen auszutauschen, gebe es heute verstärkt einen „entgleisten Kommunitarismus, der einen extremen Fokus auf die jeweilige Gemeinschaft“ lege.
Bei der „Cancel Culture“ werde der Austausch von Argumenten durch strategische Kommunikation, das Unter-Druck-Setzen anderer und Sanktionieren unterlaufen, kritisierte Nida-Rümelin. Dieses Vorgehen gebe es „von links wie von rechts, auch in der Mitte“. Die derzeit erfolgreichste Form einer „Cancel Culture“ werde in den USA von rechten Kreisen praktiziert, wo zum Teil Schulbibliotheken und Lehrpläne von allem befreit würden, das als unsittlich empfunden werde.
Gegen Kritik sei nichts einzuwenden, betonte Nida-Rümelin: „Aber wenn die Aktionen so weit gehen, dass sich zum Beispiel Vertreterinnen des Alice-Schwarzer-Feminismus an den Universitäten nicht mehr äußern können, haben wir ein ernstes Problem.“ Die Grenzen dessen zu bestimmen, was in Demokratien ohne Verletzung von Rechtsnormen sagbar und vertretbar ist, sei eine staatliche Aufgabe. Dass die Leugnung des Holocaust unter Strafe stehe, sei richtig. Wer den Boden der Menschenrechte verlasse, disqualifiziere sich als Gesprächspartner.