"Ganz Paris, um den herkömmlichen Ausdruck zu gebrauchen, pilgert nach dem Boulevard de la Madeleine, um das neue Wunder, die Überraschungen der Kinematographie zu sehen." Viele solche enthusiastische Nachrichten wie diese aus den "Frankfurter Nachrichten" machten zu Beginn des Jahres 1896 die Runde. Sie kündeten von einem neuen Medium, das das 20. Jahrhundert geprägt hat wie kein anderes: dem Film.
Am 28. Dezember 1895 hatten Auguste Lumière und sein Bruder Louis zum ersten Mal vor einem zahlenden Publikum im Salon Indien des "Grand Café" auf dem Boulevard des Capucines ihren "Cinématographe" vorgeführt. Von hier aus unternahm er seinen Siegeszug.
Auguste Lumière kam vor 150 Jahren, am 19. Oktober 1862, zur Welt. Er und sein jüngerer Bruder Louis (1864-1948) wurden in einen photochemischen Betrieb hineingeboren. Vater Antoine hatte sein Fotoatelier aufgegeben und in Lyon eine Fabrik für Fotoplatten gegründet. Als der Betrieb kurz vor der Insolvenz stand, übernahmen die Brüder das Ruder.
Die ganze Welt in zwanzig Minuten
Louis, der technisch versiertere der beiden, entwickelte ein neues Verfahren, das die Firma sanierte. Ende des 19. Jahrhunderts lag die Erfindung des Films quasi in der Luft. Einer der Vorläufer waren Edisons Guckkästen, die aber mehrere gravierende Nachteile hatten: Hineinschauen in ein solches Kinetoskop konnte immer nur einer, die Kameras waren schwer, und mit einer Aufnahmegeschwindigkeit von 48 Bildern in der Sekunde (heute: 24) fraßen sie sehr viel Filmmaterial.
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Es soll Auguste Lumière gewesen sein, der nach einer Besichtigung des Kinetoskops in Paris die Idee hatte, dass diese bewegten Bilder auch größeren Zuschauermengen gezeigt werden müssten. Louis konstruierte dafür einen Greifermechanismus, der in ein kleines Kästchen passte. Der Kinematograph Lumière war ein vielseitiger Apparat: er konnte aufnehmen, projizieren und auch für die Vervielfältigung von Filmen verwendet werden.
"Ein kleines Theater, eine nur zwanzig Minuten dauernde Vorstellung", heißt es in dem Zeitungsbericht über die legendären Vorführungen in Paris weiter. "Aber in diesem engen Raume, in dieser Spanne Zeit sieht man eine ganze Welt an sich vorüberziehen. Nicht etwa in starren Bildern ohne Leben und Bewegung, sondern eine Welt, die leibt und lebt, webt und schafft, ganz wie die Wirklichkeit. (...) Es grenzt ans Wunderbare."
Der erste Film: Arbeiter verlassen die Fabrik
Der Eintrittspreis betrug einen Franc, gezeigt wurde ein Programm, das sich aus zehn kurzen Filmen zusammensetzte. Die meisten Filme der Gebrüder Lumière bestanden aus dokumentarischen Aufnahmen. Darunter war auch der berühmte Film "Arbeiter verlassen die Fabrik Lumières", der erste Film, den die Lumières im März 1895 vor der väterlichen Fabrik in Lyon drehten.
Dieser Film gilt als Geburtsstunde des Dokumentarfilms überhaupt: Zu sehen sind Arbeiterinnen und Arbeiter, die das Tor der Lumièreschen Fabrik passieren. Heute weiß man, dass auch dieser Dokumentarfilm inszeniert war, da die Menschen hinter dem Tor warten mussten, um es dann auf Zuruf zu durchqueren.
Nur wenige dieser knapp einmütigen Filme, rund 50, haben die Lumières selbst gedreht. Aber sie waren auch die Väter einer Industrie, indem sie erste Kinos eröffneten. Und sie sorgten für die Ausbreitung des Films als Massenmedium in Europa: Ihre Kameramänner bereisten die Welt und nahmen Landschaften und politische oder militärische Ereignisse auf. Wir verdanken ihnen die ersten Filmaufnahmen deutscher Städte wie Hamburg, Berlin, Stuttgart oder Frankfurt.
"Lebende Photographien" auch in Köln
Auch die Einführung des Films in Deutschland ist den Lumières zuzuschreiben. Sie vergaben das Alleinverwertungsrecht für den "Cinématographe" an die "Deutsche Automaten-Gesellschaft" in Köln, eine Tochterfirma der Firma Stollwerck, und stellten den Apparat in einer öffentlichen Premiere erstmals am 20. April 1896 in Köln vor. Die Lumières machten so ein Millionenpublikum mit den "lebenden Photographien" vertraut. 2.113 Filme umfasste ihr Katalog aus dem Jahr 1903.
Aber auf die weitere Entwicklung des Films nahmen sie dann nur begrenzt Einfluss - auch wenn sie schon 1900 ein erstes Breitwandverfahren vorstellten. Die Lumières hielten den Film tragischerweise für eine Erfindung ohne Zukunft. Sie konzentrierten sich auf die Fotografie und stellten 1907 ein erstes praktikables Farbverfahren vor. Ihre kinematographischen Geräte verkauften sie nach und nach an andere Filmemacher.
Und nachdem das Kapitel Film für ihn abgehakt war, entwickelte Auguste Lumière - ganz ohne entsprechende Ausbildung - ein Interesse für Medizin. Während des Ersten Weltkriegs baute er aus eigenen Mitteln einen röntgenmedizinischen Dienst in Lyon auf und gründete aus dem photochemischen Betrieb heraus ein medizinisches Fotolabor und Pharmaunternehmen. Neben dem Fieber- und Schmerzmittel Cyrogénine stammten noch eine ganze Reihe anderer Arzneimittel aus dem Hause Lumière. Am 10. April 1954 starb Auguste Lumière in Lyon.