Scherbakowa: Viele Russen haben ausgeprägtes Doppeldenken

Scherbakowa: Viele Russen haben ausgeprägtes Doppeldenken

Berlin (epd). Für die Gründerin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, Irina Scherbakowa, wird sich Russland nur verändern, wenn die Ukraine den Krieg gewinnt. Damit verbunden müsse ein langer, tiefgreifender Prozess der „Entputinisierung“ sein, sagte die Historikerin dem „Tagesspiegel“ (Mittwoch): „Das bedeutet einerseits Aufarbeitung, aber auch, Verantwortung zu übernehmen für die Verbrechen, die Russland in diesem Krieg begeht - gesellschaftlich, juristisch und politisch.“

Bei vielen Menschen in Russland sei die kognitive Dissonanz, ein Doppeldenken, stark ausgeprägt, sagte Scherbakowa, deren Organisation 2022 der Friedensnobelpreis verliehen wurde: „Wir sehen das jetzt erst recht: Man will vielleicht den Krieg nicht, aber man sieht auch keine Alternative zu Putin, deshalb steht man doch zu ihm. Dieses Regime hat das aus den Menschen gemacht - und die Menschen haben das zugelassen.“

Das sei die Folge von fast 24 Jahren Propaganda, Anpassung, Angst, Bestechung und der Vernichtung politischer, oppositioneller Stimmen: „Die russische Bevölkerung hat sich immer mehr an die Unfreiheit und Gewalt gewöhnt.“ Die Menschen wollten das aber nicht begreifen oder nicht zugeben.

Es nütze nichts, jetzt darüber zu sprechen, dass man das Wesen von Putin von Anfang an erkannt habe, sagte die russische Historikerin, die heute im deutschen Exil lebt: „Dass Putins Hintergrund in der Staatssicherheit gefährlich sein würde, zeigte sich ja schnell. Allerdings haben viele Russen weggeschaut oder dachten, dass mit ihm nun wirklich Stabilität kommen würde.“