Potsdam (epd). Fast 80 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus ist ein weiteres Verfahren wegen NS-Verbrechen ohne rechtskräftiges Urteil beendet worden. Der im vergangenen Jahr vom Landgericht Neuruppin verurteilte KZ-Wachmann Josef S. sei am 11. April mit 102 Jahren gestorben, bestätigte das Gericht am Donnerstag. Der Verteidiger von S. hatte nach dem Urteil vom 28. Juni 2022 Revision eingelegt. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs dazu stand noch aus.
Der frühere Chefermittler der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, Thomas Walther, sagte, die vom Landgericht getroffenen Feststellungen seien für die Überlebenden und die Familien der Mordopfer von Sachsenhausen „von überragender Bedeutung“, auch ohne Bestätigung des Bundesgerichtshofs. Der Jurist war als Nebenklageanwalt an dem Prozess beteiligt. Er sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Donnerstag, zehn Monate nach dem Urteil werde nun erneut deutlich, „dass auf der Suche nach Gerechtigkeit Jahrzehnte der Ignoranz in der deutschen Justiz vergingen“. Erst ab 2008 habe „ein Umdenken zur pflichtgemäßen Anwendung des Rechts“ geführt.
Das Landgericht Neuruppin hatte Josef S. im Juni 2022 wegen Beihilfe zum Mord und zum versuchten Mord in einer Vielzahl von Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Mit seinem Dienst im Konzentrationslager Sachsenhausen habe S. „Terror und Massenmord gefördert“, hieß es bei der Urteilsverkündung. Das sei ihm auch bewusst gewesen. Mit seiner Wachtätigkeit habe er die NS-Verbrechen in dem Konzentrationslager bereitwillig unterstützt. (AZ: 11 Ks 4/21)
In dem fast 100 Seiten langen Urteil heißt es weiter, S. habe seinen Dienst im KZ „im Bewusstsein des dadurch geförderten Massenmordes dennoch gewissenhaft und zuverlässig“ ausgeübt. Er sei „willfähriger und effizienter Angehöriger des Wachsturmbanns“ gewesen. Das Gericht habe keinen Zweifel, dass er gewusst habe, dass die Tötungen in Sachsenhausen „Unrecht waren, für das es keinerlei Rechtfertigung gab“.
In den vergangenen Jahren waren bereits in anderen Fällen Prozesse gegen früheres KZ-Personal ohne rechtskräftiges Urteil zu Ende gegangen, weil die Verurteilten vor der abschließenden Gerichtsentscheidung gestorben sind. Dazu gehört der Fall John Demjanjuk. Der frühere SS-Wachmann des Vernichtungslagers Sobibor starb 2012 mit 91 Jahren, bevor seine fünfjährige Haftstrafe rechtskräftig wurde. Der ehemalige KZ-Wachmann Reinhold Hanning, der in Auschwitz im Dienst der SS stand, starb 2017 mit 95 Jahren, bevor seine Verurteilung zu fünf Jahren Haft rechtskräftig wurde.
In Brandenburg ermittelt die Staatsanwaltschaft Neuruppin derzeit noch in einem Fall wegen NS-Verbrechen. Das Verfahren richte sich gegen eine ehemalige Aufseherin des KZ Ravensbrück, sagte Oberstaatsanwalt Cyrill Klement dem epd am Donnerstag: „Die Ermittlungen gegen die zwischenzeitlich 100-jährige Beschuldigte wegen Beihilfe zum Mord dauern an.“ Die Staatsanwaltschaft Neuruppin ist für Fälle mit Bezug zu den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück zuständig. Klement war auch an dem Verfahren gegen Josef S. beteiligt.