Nach einer Studie der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung fühlen sich mehr als zwei Drittel der Jobcenter-Mitarbeiter unsicher oder bedroht. Welche Faktoren führen zu dieser Atmosphäre?
###mehr-personen###Jürgen Zöller: Sie müssen davon ausgehen, dass der typische Jobcenterkunde - der man ganz schnell wird - finanziell sehr in Not ist. Es gibt Situationen, in denen die Gesetzgebung einfach nicht helfen kann. Nehmen Sie zum Beispiel einen Menschen, 50 plus, der ein Jahr arbeitslos ist und das Jahr darauf schon im Hartz IV. Als Hauptgrund stehen extreme finanzielle Probleme im Hintergrund, existentielle Probleme.
Was sind die häufigsten Aggressionsformen, mit denen Mitarbeiter in Jobcenter konfrontiert werden? Sind es mehr verbale Attacken oder eher tätliche Angriffe?
Zöller: Überwiegend verbal. Das geht los mit Beleidigungen, über Drohungen bis hin zu Tätlichkeiten wie Tisch abräumen und wirklich körperlichen Aggressionen. Ich habe sehr viele Jobcenter in meinem Kundenkreis. Da gab es schon Angriffe mit einer Axt oder einem Beil, mit Vorschlaghammer, Backstein, Messer, bis hin zur bewaffneten Geiselnahme. Solche Angriffe sind zwar zum Glück statistisch gesehen die Seltenheit, aber das nützt dem einzelnen Mitarbeiter wenig.
Kann man als Jobcenter-Mitarbeiter bei bestimmten Kunden vorgewarnt sein?
Zöller: Grundsätzlich ja. Wir schauen uns in unseren Trainings so genannte PINS an, das heißt "Pre-Incident-Indicators" - also Anzeichen, die auf einen unmittelbar bevorstehenden Angriff hindeuten. Es gibt physiologische PINs, das sind Dinge, die man selbst nicht steuern kann. Zum Beispiel wird der Kopf rot oder auch blass, die Atemfrequenz erhöht sich, die Wortwahl wird unkontrollierter, der Kunde starrt nur in eine Ecke. Je früher man so einen PIN erkennt, desto größer ist die Chance, dass man deeskalativ tätig werden kann. Es kann aber genauso gut wie im Fall Neuss völlig überraschend gehen, dass die Tür auffliegt, jemand reinkommt und seinen Aggressionen freien Lauf lässt. Es gibt verbale PINs wie Schimpfwörter und Beleidigungen oder dass man vom höflichen "Sie" plötzlich zum abschätzenden "Du" wechselt, und nonverbale PINs wie Drohgebärden.
"Es gibt keinen roten Knopf, den man drücken kann, und dann beginnt eine Deeskalation."
Sie bieten Seminare zur Deeskalation an. Was bringen Sie den Mitarbeitern der Jobcenter in Ihren Kursen bei?
Zöller: Meine Kurse sind dreigeteilt: Kommunikation, Deeskalation und Eigensicherung. Wir fangen an mit der Grundeinstellung und lernen dabei etwas über wertschätzendes, empathisches Verhalten - das heißt, den Kunden so zu akzeptieren, wie er ist. Ich muss selbstbewusst wirken, ich darf mich auf keinen Fall in eine Opferrolle hineindrängen lassen. Dass der Kunde sich auf einmal stark fühlt und es vielleicht auch diesen Moment genießt, in dem er merkt: mein Sachbearbeiter hat Angst - das darf auf keinen Fall passieren. Es muss auf Augenhöhe miteinander kommuniziert werden.
Und wie funktioniert dieses Training in der Praxis?
###mehr-artikel###Deeskalation ist leider keine einfache Sache. Es gibt keinen roten Knopf, den man drücken kann, und dann beginnt eine Deeskalation. Ich muss dazu bereit sein, überhaupt deeskalieren zu wollen, und das ist gar nicht so einfach, wenn mich mein Gegenüber gerade bedrängt und ich mich im Recht fühle - ich habe ja das SGB II hinter mir. Ich muss dann einfach beginnen mit der Deeskalation. Zum Beispiel könnte ich sagen: "Okay, jetzt machen Sie einfach mal langsam, wir sind an einem Punkt, wo wir merken, das geht aus dem Ruder, lassen Sie uns mal fünf Minuten vor die Tür gehen." Runterkommen - das ist extrem schwer. Das trainieren wir in Rollenspielen mit sehr hoher Intensität, wo wirklich auch Adrenalin ins Spiel kommt. Ich als Trainer schreie die Leute massiv an, das geht bis hin zu einem Worst-Case-Szenario, das nennt man "Stressimpfung". Man muss solche Situationen einfach durchspielen, die passieren ja nicht oft. Eine Mitarbeiterin einer Hartz-IV-Behörde wird wahrscheinlich - wenn überhaupt - einmal in ihrem Leben massiv körperlich angegangen.
Und die dritte Stufe - die Eigensicherung?
Zöller: Da geht es zum Beispiel darum: Wie sieht mein Schreibtisch aus? Steht da der große Aktenlocher griffbereit für den Kunden, ist da mein Brieföffner, eine Schere? Und wie ist es mit Fluchtmöglichkeiten? Was kann ich denn wirklich als ersten Selbstverteidigungsschritt überhaupt tun, wenn mich jetzt jemand wirklich massiv angeht? Mein Ratschlag ist: Verlasst euch in erster Linie auf euch selbst, als zweites auf eure Kollegen, und als drittes auf eine Security, falls die überhaupt im Haus ist. Die wird genau in dem Moment mit Sicherheit gerade woanders sein.
"Das Gehirn kann nicht wirklich unterscheiden: Ist es jetzt eine gestellte Situation oder ein Ernstfall?"
Wenn ich als Jobcentermitarbeiterin bei Ihnen geübt und Strategien gelernt habe - Kann ich die in einem Moment der Schockstarre überhaupt umsetzen?
Zöller: Ich hatte einen Fall, da reißt jemand die Tür auf und steht mit so einem Gipserbeil vor dem Hartz-IV-Mitarbeiter. Klar, dann kommt erstmal diese Freeze-Phase, diese Schockstarre. Man kann es trainieren, dass man die relativ schnell überwindet und dann wieder handlungsfähig wird -entweder durch Flucht oder durch Verteidigung. Ich gebe immer den Tipp: Spielt öfter mal solche Worst-Case-Situationen gedanklich nach. Das Gehirn kann nicht wirklich unterscheiden: Ist es jetzt eine gestellte Situation oder ein Ernstfall? Je mehr ich in dieser Richtung für mich selbst tue, umso mehr wird meine Transferfähigkeit und damit auch meine Handlungsfähigkeit in einem Ernstfall erhöht.
So ein aggressive Verhalten - verbal oder tätlich - gab es das schon immer oder ist das ein Phänomen unserer Zeit?
Zöller: Das gab es mit Sicherheit schon immer, aber die Qualität hat extrem zugenommen und auch die Häufigkeit - auch wenn manche Polizeistatistik etwas anderes aussagt. Das subjektive Empfinden - zumindest von den Mitarbeitern, mit denen ich bisher zu tun hatte - ist ganz klar: Es ist schlimmer geworden und es wird weiterhin schlimmer. Die Hemmschwelle, das sieht man auch beim Umgang mit Polizisten, ist gesunken. Gründe dafür sind gesellschaftliche Probleme, Verrohung über Massenmedien oder Computerspiele und eine Menge andere Gründe. Definitiv hat die Qualität und die Quantität der Aggressionen zugenommen.