Psychologe: Silvester-Gewalt soziales Problem, kein ethnisches

Psychologe: Silvester-Gewalt soziales Problem, kein ethnisches
05.01.2023
epd
epd-Gespräch: Nils Sandrisser

Berlin (epd). Der Berliner Soziologe und Psychologe Kazim Erdogan bezeichnet die Debatte um die ethnischen Hintergründe der Silvester-Krawalle als „Schnellschüsse“. Es gehe dabei darum, zu verschleiern, dass man keine schnellen Antworten auf soziale Entwicklungen habe, sagte der Vorstand des Vereins „Aufbruch Neukölln“ dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Mehr als 90 Prozent der jungen Menschen, um die es in der Debatte gehe, seien hier geboren und sozialisiert. „Diese jungen Leute sind hier in ihrem ganzen Leben nie positiv aufgefallen“, sagte Erdogan, der mit seinem Verein Sozialarbeit im Berliner Stadtteil Neukölln leistet. Ohne Erfolgserlebnisse könne kein positives Selbstbild entstehen. Die Identität dieser Menschen sei nicht gefestigt, und in Gruppen fänden sie Identität und Stärke. In Gruppen reflektierten sie aber ihr Verhalten nicht. Das könne Gruppenprozesse eskalieren und unkontrollierbar werden lassen.

Allerdings gebe es in den Milieus, in denen er arbeite, auch eine Neigung zu Gewalt. Erdogan nannte ein „teuflisches Viereck“, das Faktoren für Gewalt abbilde: erstens fundamentalistische Einstellungen, zweitens traditionalistische Lebensweisen, drittens starker Nationalismus, viertens Druck des Umfelds. „Diesen Druck des Umfelds haben wir an Silvester gesehen“, erklärte Erdogan.

Die Beschränkungen durch die Corona-Pandemie haben Erdogan zufolge ebenfalls eine Rolle gespielt. Es seien in diesem Jahr sehr viele Böller gekauft und eingesetzt worden. „Es gab schon eine Sehnsucht nach Exzess“, sagte er. „Zwei Jahre gab es teilweise Isolation, Angst und Verunsicherung. Und jetzt ganz plötzlich - ich übertreibe jetzt ein wenig - die Luft der Freiheit.“ In einer Atmosphäre der Befreiung suche man unbewusst nach Feinden. In diesem Moment seien Rettungskräfte und Feuerwehrleute als Feinde wahrgenommen worden.

Langfristig löse man die Integrationsprobleme, indem man sozial benachteiligte Menschen nicht länger ignoriere. Er unterstütze den Vorschlag von runden Tischen, wie sie etwa von der Gewerkschaft der Polizei gekommen seien. Wenn man dazu Elternhäuser, Bildungseinrichtungen. Migrantenorganisationen oder Moscheevereine einlade, entstünde ein Wir-Gefühl.

Die Gewalt bekomme man in den Griff, indem man sie im Gespräch mit Gewalttätern thematisiere. „97 Prozent der Menschen geben das weiter, was sie erlebt haben“, sagte Erdogan. „Hatten sie in ihren Elternhäusern Zuwendung und Aufmerksamkeit, geben sie das weiter. Haben sie Ausgrenzung, Abwertung, Drohung und Missachtung erfahren, geben sie das weiter.“ Zu ihm kämen auch Mörder und Väter, die ihre Kinder massiv misshandelt hätten, und sie reflektierten ihr Verhalten, wenn er es schaffe, ihnen zu verdeutlichen, wie schlimm Gewalt sei.