Schuster warnt vor Verblassen der Erinnerung an Schoah

Schuster warnt vor Verblassen der Erinnerung an Schoah

München (epd). Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sieht Anzeichen dafür, dass die Erinnerung an den nationalsozialistischen Völkermord in Deutschland zu verblassen droht. Laut einer aktuellen Umfrage würden 49 Prozent der Deutschen gerne einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen, schreibt Schuster in einem Gastbeitrag für die „Süddeutsche Zeitung“ (Mittwoch) zum Jahrestag der Reichspogromnacht. „Ich würde diesen Menschen dringend empfehlen, sich mit einem Schoah-Überlebenden zusammenzusetzen.“

Ohne eine gelebte Erinnerungskultur gebe es auch keine demokratische Kultur der Bundesrepublik Deutschland, so Schuster. „Es wird eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, die Erinnerung an die Schoah zu bewahren und mit der Gesellschaft weiterzuentwickeln.“ Bald werde es keine Zeitzeugen mehr geben. Das mache „das verantwortungsbewusste Erinnern nicht leichter“. Schuster mahnt, dies seien die Fragen, auf die Antworten gefunden werden müssen. „Ansonsten würde die Bundesrepublik Deutschland einen Wesenskern verlieren.“

Das Gedenken an die Pogrome gerate immer mehr in Konkurrenz zum Jubiläum des Mauerfalls vom 9. November 1989, schreibt der Zentralratspräsident weiter. „Wir erleben einen Paradigmenwechsel in Kultur und Wissenschaft, der an den Grundüberzeugungen der Bundesrepublik Deutschland rüttelt: der Erinnerung an die Schoah als identitätsstiftendes Moment“. Aus verschiedenen politischen Richtungen werde versucht, „Erinnerung neu zu definieren“.

Dass Deutschland sich wie fast jedes andere europäische Land für seine koloniale Vergangenheit verantworten muss, stehe außer Frage. Falsch sei es aber, dass viele auch Israel als „kolonialistisches Projekt“ darstellten. Wie verbreitet die Israelfeindlichkeit sei, habe die diesjährige Documenta gezeigt wie auch die weithin kritiklose Auszeichnung der Schriftstellerin Annie Ernaux mit dem Literaturnobelpreis. Ihr Werk sei vielleicht auszeichnungswürdig, aber „eine Person, die solch israelfeindliche Positionen vertritt, darf es nicht sein“, so Schuster.

Auf der Rechten seien es vor allem „geistige Brandstifter“ wie die AfD-Politiker Alexander Gauland oder Björn Höcke, die an der Erosion der Holocaust-Erinnerung arbeiteten: „Sie wollen die Last von Auschwitz, Treblinka, Majdanek, Sobibor, Bergen-Belsen und all diesen Orten des Menschheitsverbrechens Schoah abschütteln.“ Über ihre Mandate erhielten rechte Politiker Einfluss auf die deutsche Erinnerungskultur, schreibt Schuster. Ihr „Revisionismus“ finde auch im bürgerlichen Lager Gehör.

Mit der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 gingen die Nationalsozialisten zur offenen Gewalt gegen die jüdische Minderheit im Dritten Reich über. Vielerorts brannten die Synagogen und jüdischen Gebetshäuser. Jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden verwüstet und jüdische Bürger misshandelt. Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass mehr als 1.300 Menschen getötet und mindestens 1.400 Synagogen in Deutschland und Österreich stark beschädigt oder zerstört wurden.