Sonntagnachmittag auf der Lama-Weide in Reutlingen-Ohmenhausen: Ein Dutzend Familien sitzt auf Picknickdecken verteilt auf der Wiese, dazwischen bewegen sich fünf Lamas. Deren Chefin, "Luna", schnuppert an einem Klappstuhl, geht anschließend auf einen Besucher zu - so nahe, dass sie fast dessen Gesicht berührt. Er lacht und zieht seinen Kopf ein wenig zurück. "Willkommen im Wohnzimmer der Lamas", begrüßt Pfarrerin Ulrike Schaich ihre Gemeinde zum Gottesdienst mitten auf der Lama-Wiese.
Bereits seit zehn Jahren hält die 55-jährige Theologin mehrere der wolligen Tiere aus Südamerika. Seit dem 1. Juni 2021 setzt sie ihrer Vierbeiner auch in ihrem Beruf ein: Sie ist die erste Pfarrerin deutschlandweit, die von einer evangelischen Kirche speziell angestellt wurde, um kirchliche Veranstaltungen mit Lamas zu ermöglichen.
Ihre auf sechs Jahre befristete 50-Prozent-Stelle im Kirchenbezirk Nürtingen ist eine Projektstelle der württembergischen Landeskirche im Rahmen des Fonds "Neue Aufbrüche", durch den insgesamt zehn innovative Pfarrstellen finanziert werden. Außerdem ist Schaich Gemeindepfarrerin in Altdorf im Landkreis Esslingen.
Große Nachfrage von kirchlichen Besuchergruppen
Nach rund einem Jahr auf ihrer Projektstelle ist sie überrascht, wie viele Anfragen sie erhält. Kinderkirchen und Gemeindegruppen besuchen sie, aber auch Pflegekräfte, Teams aus diakonischen Beratungsstellen oder einer Stadtbücherei schauen vorbei. Am 2. Oktober gibt es einen Erntedank-Gottesdienst auf der Lama-Wiese mit anschließendem Lama-Pilgern. "Ob eine Andacht bei den Bienen oder christliches 'Waldbaden' - ich habe den Eindruck, dass innovative kirchliche Angebote in der Natur Menschen ansprechen, und sie merken: Das ist relevant für uns", sagt sie.
Es geht Schaich um ein respektvolles Miteinander von Menschen und Tieren. Deshalb seien Tiere nicht einfach ein Nahrungsmittel, sondern Mitgeschöpfe. "Wenn wir Gottes Beziehung zu den Tieren und zur Erde als nebensächlich liegenlassen, verpassen wir viel Erkenntnis über Gott", sagt die Pfarrerin, die eine Außenstelle des Instituts für Theologische Zoologie e. V. in Münster vertritt. In einem respektvollen Umgang mit Tieren und Pflanzen, dem Boden und den Mitmenschen finde der Mensch seinen Platz auf der Erde, erklärt sie.
Ulrike Schaich entdeckte bereits als junges Mädchen ihre Begeisterung für Lamas: Mit ihrem Großvater durfte sie als Neunjährige nach Ecuador reisen, wo ihre Tante lebte. Dort erlebte sie die Geburt eines Lamafohlens - eine Szene, an die sie sich bis heute erinnert.
Respekt zwischen Mensch und Tier
Neben Gottesdiensten veranstaltet die Theologin auch Pilgerwanderungen mit Lamas. Die Tiere aus dem Andengebirge sind für Ulrike Schaich ideale Begleiter, mit denen man "auf Augenhöhe" wandern könne. Durch ihre Gelassenheit und ihren Gleichmut übten sie einen positiven Einfluss auf die Pilgerinnen und Pilger aus. Mit verschiedenen Gruppen pilgerte sie bereits auf dem Jakobsweg - aber auch auf unbekannteren Wegen in der Umgebung.
Ende August hat sie mit ihren Lamas Cuzco und Puntito am 6. Ökumenischen Pilgerweg für Klimagerechtigkeit teilgenommen und ist mit einer Gruppe von Stuttgart, dem Ort des Katholikentages, mehr als 130 Kilometer zum internationalen Weltökumene-Gipfel des Weltkirchenrates (ÖRK) nach Karlsruhe gepilgert.
Dieser Marsch, der die bisher längste Strecke für ihre Lamas war, sollte ein Zeichen setzen für die Verbindung der Konfessionen sowie für Artenschutz und den Einsatz gegen den Klimawandel. Schaich findet es immer wieder erstaunlich, wie aus einer kleinen Gruppe Tiere und Menschen beim Pilgern eine "Herde" entsteht. "Die Lamas sind Herdentiere und klinken sich einfach in die Gruppe ein", erzählt sie.
Lamas lieben Blumenschmuck...
Nach einer Stunde geht der Gottesdienst auf der Lama-Weide in Reutlingen-Ohmenhausen zu Ende. Nun dürfen die Kinder die Lamas führen und streicheln. Mit einem Klischee räumt Ulrike Schaich dabei auf: Nein, artgerecht gehaltene Lamas spuckten keine Menschen an. Dies machten sie nur, wenn sie sich gegenüber anderen Lamas verteidigen wollten, erklärt die Pfarrerin noch - und eilt dann schnell zum "Altar", einem Tisch mit Kreuz, Bibel und Blumengesteck. Denn dort inspiziert eine Lamastute jetzt einmal genauer, was die menschlichen Gäste an diesem Sonntagnachmittag mit auf ihre Wiese gebracht haben. Es scheint ihr zu gefallen: Genüsslich kaut sie am Blumenschmuck.