Berlin (epd). Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan warten immer noch Tausende gefährdete Afghaninnen und Afghanen auf eine Ausreise. Racheakte, Verfolgung, Folter und Gewalt prägten die Realität von Frauen und Männern, die sich für ein freies und demokratisches Afghanistan eingesetzt haben, erklärte die Arbeiterwohlfahrt (AWO) am Freitag in Berlin. Zehntausende von ihnen seien zurückgelassen worden und müssten um ihr Leben fürchten. Die Organisation „Kabul Luftbrücke“, die Hunderten Menschen eine Ausreise ermöglicht hat, forderte eine Anlaufstelle der Bundesregierung für gefährdete Afghaninnen und Afghanen.
Nach Angaben der fluchtpolitischen Sprecherin der Linken im Bundestag, Clara Bünger, warten noch mehr als 5.000 Familienangehörige von in Deutschland anerkannten afghanischen Flüchtlingen auf einen Botschaftstermin, um ein Visum zur Familienzusammenführung beantragen zu können. „Viele von ihnen sitzen monate- oder gar jahrelang unter unzumutbaren Bedingungen in Afghanistan fest“, sagte sie in Berlin. Besonders problematisch sei die Lage für Frauen, deren Rechte die Taliban deutlich eingeschränkt hätten. Die Wartezeiten auf einen Termin betragen Bünger zufolge mehr als ein Jahr.
Bünger, die AWO und „Kabul Luftbrücke“ forderten deutlichere Anstrengungen der Bundesregierung. Die bisher laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgenommenen 18.000 Menschen seien nicht genug, erklärte die AWO. Etwa 6.000 weitere Afghaninnen und Afghanen hätten eine Zusage und warteten auf ihre Einreise. Daneben seien Zehntausende zurückgelassen worden, die wegen ihrer Tätigkeit als Ortskräfte, ihres Einsatzes für Demokratie, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung gefährdet seien. Die radikal-islamistischen Taliban hatten am 15. August 2021 die afghanische Hauptstadt Kabul erobert und damit die Herrschaft über das Land wieder übernommen.
Laut der „Kabul Luftbrücke“ braucht es dringend eine Anlaufstelle der Bundesregierung für gefährdete Afghaninnen und Afghanen. Eine solche sei jedoch nicht geplant. Zudem sei versäumt worden, die nötigen Personalkapazitäten zu schaffen, um das Aufnahmeprogramm des Bundes sinnvoll umzusetzen, kritisierten die Aktivistinnen und Aktivisten, die nach eigenen Angaben bisher mehr als 2.500 Menschen bei der Ausreise aus Afghanistan unterstützt haben. „Dass noch nicht mal die Anfragen gefährdeter Personen aus dem letzten August abgearbeitet sind, ist nicht nachvollziehbar“, kritisierte „Luftbrücken“-Mitglied Tareq Alaows.
Die Bundesregierung müsse eine Online-Plattform einrichten, an die sich Betroffene wenden können, forderte Alaows. Ansonsten setze sich das Chaos der alten Regierung fort. Die Lage der Gefährdeten verschlechtere sich von Tag zu Tag, da die Taliban die Ausreise der Menschen immer effektiver zu verhindern versuchten.
Bünger zufolge hat die Bundesregierung zwar einige Maßnahmen ergriffen, um die Verfahren zu beschleunigen - so seien Visastellen angewiesen worden, Ermessensspielräume zu nutzen und das aufwendige Urkundenüberprüfungsverfahren sei ausgesetzt. „Doch das kommt viel zu spät und reicht bei Weitem nicht aus.“ Während Fachkräfte nach spätestens drei Wochen einen Visumtermin erhalten müssten, lasse die Bundesregierung verzweifelte Familienangehörige in der Warteschleife hängen.