Brandenburg an der Havel (epd). Im NS-Prozess gegen einen mutmaßlichen früheren Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen hat die Verteidigung Freispruch gefordert. In dem Indizienprozess sei eine Beteiligung des 101-jährigen Angeklagten Josef S. an NS-Verbrechen nicht nachgewiesen worden, sagte Anwalt Stefan Waterkamp am Montag in Brandenburg an der Havel. Auch eine Tätigkeit als Wachmann in einem Konzentrationslager könne ohne konkrete Tatnachweise zudem nicht als Beihilfe zum Mord gewertet werden. Josef S. werde in dem Verfahren ausschließlich eine generelle Beteiligung am Wachdienst vorgeworfen. (AZ: 11 Ks 4/21)
Sollte das Gericht seinen Mandanten dennoch verurteilen, müsse die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden, sagte Waterkamp. Josef S. müsse dann zugutegehalten werden, dass er damals nicht habe erkennen können, dass bereits der Dienst im KZ eine Beteiligung an Verbrechen sein könnte.
Eine Haftstrafe von fünf Jahren, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, wäre „unangemessen hoch“, sagte Waterkamp. In anderen NS-Prozessen der zurückliegenden Jahre seien für eine weit höhere Zahl von Todesopfern in der Regel geringere Haftstrafen verhängt worden. Die Verbrechen in Sachsenhausen seien zwar „unmenschlich und grausam“ gewesen, aber nicht mit denen in Todesfabriken wie Auschwitz vergleichbar. Josef S. sei zudem der älteste jemals in Deutschland angeklagte Mensch. Das Urteil soll am Dienstag verkündet werden.
Die Staatsanwaltschaft wirft Josef S. Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord in mehr als 3.500 Fällen vor. Nebenklagevertreter haben eine Haftstrafe von mindestens fünf Jahren gefordert. In dem als Modell- und Schulungslager der SS errichteten KZ waren zwischen 1936 und 1945 mehr als 200.000 Menschen inhaftiert. Zehntausende von ihnen wurden ermordet oder kamen auf andere Weise ums Leben. Das Landgericht Neuruppin hat den Prozess nach Brandenburg an der Havel in die Nähe des Wohnorts von Josef S. verlegt, weil er laut Gutachten nur wenige Stunden am Tag verhandlungsfähig ist.
Der Angeklagte bestritt auch in seinem letzten Wort am Montag erneut, Wachmann in Sachsenhausen gewesen zu sein. „Ich weiß nicht, warum bin ich hier?“, sagte der gebürtige Baltendeutsche: „Ich habe damit gar nichts zu tun.“ Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe seien falsch. Er will in der fraglichen Zeit an einem anderen Ort in der Landwirtschaft gearbeitet haben. Unterlagen sprechen jedoch dafür, dass er als SS-Wachmann in dem KZ in Oranienburg nördlich von Berlin im Einsatz war.
Das Simon-Wiesenthal-Zentrum setzt darauf, dass der Angeklagte verurteilt wird und ins Gefängnis muss. „Das hoffen wir alle“, sagte der Direktor des Israel-Büros des Wiesenthal-Zentrums, Efraim Zuroff, am Montag am Rande der Verhandlung. Dass seit den Verbrechen viel Zeit vergangen ist, mache die Schuld der Täter nicht geringer. Auch hohes Alter dürfe dabei nicht vor einer Verurteilung schützen.
Der in Litauen geboren Angeklagtebte nach Zweitem Weltkrieg und Kriegsgefangenschaft mehr als 40 Jahre in der DDR. Laut Staatsanwaltschaft war er in der Zeit zwischen dem 23. Oktober 1941 und dem 18. Februar 1945 SS-Wachmann in Sachsenhausen. Im Zuge der Ermittlungen wurden unter anderem Dokumente aus der Gedenkstätte Sachsenhausen, dem Bundesarchiv in Berlin und der Stasi-Unterlagenbehörde ausgewertet.